Modelle kooperativer Wissensproduktion

In Zusammenhang mit dem von Google vorgestellten Knol Konzept habe ich mich alternativen Konzepten zur Wissensproduktion im Internet beschäftigt. Ich plane dazu einen längeren Fachartikel für eine Zeitschrift zu schreiben. Eine rohe Kurzfassung meiner Gedanken hier jedoch vorweg zusammengefasst.


Eine Vorschau auf eine Untersuchung zu Internet-Enzyklopädien

In Zusammenhang mit dem von Google vorgestellten Knol Konzept habe ich mich alternativen Konzepten zur Wissensproduktion im Internet beschäftigt. Ich plane dazu einen längeren Fachartikel für eine Zeitschrift zu schreiben. Eine rohe Kurzfassung meiner Gedanken hier jedoch vorweg zusammengefasst.

Ausgehend von meinem ersten Überlegungen, habe ich mir folgende Enzyklopädie-Projekte angeschaut (Reihe alphabetisch)

Unterschiede in den Konzepten

1: Der soziale Aspekt (Geltungsanspruch)

Natürlich sind Enzyklopädien nicht die einzige Form gemeinschaftlicher Generierung von Wissen (im Internet).  Es ist hier überhaupt angebracht einem Missverständnis zum Begriff "kooperativer Wissensproduktion" entgegen zu wirken. Letztlich sind alle Formen der Produktion von Wissen sozial vermittelt, dh. kooperativ. So wie es keine Kommunikation mit einer Privatsprache gibt, so gibt es auch kein Wissen, das nicht bereits auf bestehendes Wissen aufbaut. Wir beziehen uns auf das Wissen von Generationen von VorgängerInnen, auf die von ihnen entwickelten Instrumente und Messgeräte etc. Dies trifft auch für den – ohnehin kaum mehr vorhandenen – einsamen Forscher zu.

Die Frage ist also nicht, dass kooperiert wird, sondern wie kooperiert wird. Wer kann/darf/soll daran in welcher Form teilnehmen? Welche Rolle spielt Expertenwissen? Aus meiner Sicht ist es in diesem Zusammenhang wichtig festzuhalten, dass Kooperation bzw. Zusammenarbeit nicht mit Demokratie gleich zu setzen ist. Es gilt nicht automatisch wie bei Wahlprozessen, dass jeder Beitrag (jede Stimme) gleichwertig ist, dass die Mehrheit entscheidet. Wie wird eine geeignete Community der WissensproduzentInnen für die jeweilige Aufgabe gebildet? An wen wenden sich die WissensproduzentInnen? Was ist die angepeilte Zielgruppe (gebildete Laien, ExpertInnen etc)?

Welche soziale (Steuerungs-)Mechanismen gibt es für die Wissensproduktion? Wie wird entschieden, was geändert, gekürzt, erweitert, publiziert ("eingefroren") wird?

2: Der subjektive Aspekt (Geltungsanspruch)

Unabhängig davon, wer sich alles und in welcher Form an der Produktion von Wissen beteiligt, ist die Frage nach der dahinterstehenden verantwortlichen Personen (Autorenschaft, Eigentümer, Kurator) zu stellen. Wer steht hinter den Aussagen, verteidigt sie mit Argumenten und entwickelt die Ideen in der sozialen Auseinandersetzung (siehe 1:) weiter?

Im Internet gibt es das besondere Problem der Anonymität, das sich nicht nur im Vandalismus zeigt, sondern auch in nicht fertig gestellten Artikel (so genannte Stubs), nicht gewissenhaft recherchierten Aussagen etc.

Mit dem subjektiven Geltungsanspruch hängt auch die Idee des neutralen Standpunkts zusammen: Wenn es keine individuelle Verantwortung gibt, dann können auch keine Extrempositionen eingenommen werden, die dahinterstehenden Gedankengänge können dann nicht konsequent weiter verfolgt werden. Letztlich ist Erkenntnis und damit Wissensproduktion nur vom erkennenden Subjekt aus möglich (vgl. Michael Polanyi: Personal Knowledge)

3: Der objektive Aspekt (Geltungsanspruch)

Die Idee des neutralen Standpunkt hängt eng mit einer bestimmten Vorstellung von Wissen zusammen. Ich meine hier noch gar nicht den Wissenstyp  wie z.B.

  • deklaratives Wissen = Faktenwissen = wissen, dass etwas der Fall ist,
  • prozedurales Wissen = Know How = wissen, wie etwas abläuft ,
  • reflektives Wissen = Metawissen, = wissen, wie etwas sich auswirkt, rückwirkt, zusammenhängt
  • soziale Wissen = Orientierungswissen = wissen, woher Wissen gewonnen werden kann usw. usf.

Nein, ich möchte hier gar noch nicht auf eine Wissensontologie eingehen, sondern ich ziele vielmehr auf die Größe und Rolle der Wissenseinheit ab.

  1. Kleine Wissenseinheiten: Typisches Beispiel im Internet ist dafür das Weblog. Blog Einträge sind normalerweise (ich bin da vielleicht eine Ausnahme) aktuell, eher kurz, dafür aber persönlich gehalten. Sie stellen vorläufige erste Ideen (= Gedankensplitter) einzeln in den Raum bzw. in die Blogosphäre. Bezogen auf die akademische Publikationskultur sind sie nach einem Ausdruck von Ludwik Fleck (Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache) mit Zeitschriftenwissenschaft übersetzbar. Es handelt sich um aktuelle persönliche Wissensfragmente, die erst ihre Bewähungsprobe (Ausformulierung, Akzeptanz durch die Community) ablegen müssen.
  2. Mittelgroße Wissenseinheiten: Typisches Beispiel sind die Artikeln für eine Enzyklopädie. Sie stellen Konzepte, Begriffe bzw. ein zusammengehöriges Set von Ideen unter einem Eintrag zusammen. Sie nicht weder brand aktuell noch persönlich und entsprechen dem, was Ludwik Fleck in der akademischen Welt als Handbuchwissenschaft bezeichnet. Sie nehmen eine Mittelstellung mit einem eigenständigen Charakter ein: Einerseits entstehen sie nichteinfach durch eine Zusammenstellung von Weblog Einträgen (oder Zeitschriftenartikel) sondern durch Auswahl und Präsentation von bereits bewärten Wissen. Andererseits können sie nicht einfach zu einem großen Theorieentwurf oder Referenzrahmen zusammengefügt werden. Wer schon einmal versucht hat sich in der Wikipedia sich zu einem größeren theoretischen Thema einen zusammenfassenden Überblick zu verschaffen, weiß wie schwierig, ja aussichtslos das ist. Zu viele Referenzen müssen verfolgt werden, das Fehlen einer (didaktischen) Hierarchie und Reihenfolge erschwert den Zugang zu einem einheitlichen Referenzrahmen bzw. einer spezifischen Theorie. – Wenn überhaupt, dann macht nur auf dieser Ebene der mittelgroßen Wisseneinheiten  der neutrale Standpunkt (NPOV = Neutrale Point Of View) überhaupt einen Sinn!
  3. Große Wissenseinheiten: Vom Charakter würde dieser Wissenstyp am ehestene einen umfangreichen Tutorial entsprechen. Hier gibt es im Internet aus meiner Sicht bisher jedoch noch viel zu wenig gute Beispiele. Das ist für mich auch der Grund, warum Bücher weiterhin ihren Wert haben. In einem Buch wird alles aus der Sicht eines einheitlichen Referenzrahmens erklärt, der selbst häufig nicht selbst reflektiert wird und daher unsichtbar im Hintergrund bleibt. Sowohl die Auswahl des Wissens, welche prototypischen Beispiele herangezogen werden, das alles wird unter einem bestimmten Blickwinkel oder Fokus betrachtet, oder um mit Thomas Kuhn (Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen) zu sprechen, ist einem bestimmten Paradigma verpflichtet. In der Analogie der Akademia können wir dies mit Fleck vielleicht als Lehrbuchwissenschaft bezeichnen.

Bezogen auf die zeitliche Struktur stellen die kleinen aktuellen aber fragmentierten Wissenseinheiten sozusagen die Vorhut dar, während die mittelgroßen Einheiten die Haupttruppen und die großen Wissenseinheiten die Nachzügler bilden. Alle drei Aspekte haben einen entscheidenden Einfluss auf die Qualitätssicherung des produzierten Wissens. 

  1. Sozial: Hierzu zählen Konzepte wie Peer Review; offene, geschlossene oder moderierte Kollaboration, sowie Kommentare und kollektive Bewertungssysteme. Aber auch Diskussionforen, Anzahl der beteiligten AutorInnen, Prozeduren der Konfliktresolution und dergleichen.
  2. Subjektiv: Um die Glaubwürdigkeit der Beiträge zu erhöen wird z.B. die Veröffentlichung unter dem echten Namen gefordert, damit die dahinterstehende Persönlichkeit, samt ihrer eventuell im Berufsleben erworbenen Autorität sichtbar wird. Oder aber es werden verdiente Aktivisten durch ein Punkte- oder Ratingssystem bewerten und ausgezeichnet.
  3. Objektiv: Viele Hintergrundannahmen werden gar nicht mehr thematisiert, obwohl ein gewisser "Denkzwang" (Fleck) herrscht, werden jene Beispiele, experimentelle Daten vorgestellt, die dem jeweiligen Paradigma entsprechen. Es geht dabei aber weder um die Falsifizierung bestimmter eigener Annahmen (wie Popper meinen würde) noch um intersubjektive Überprüfbarkeit sondern um Initiation des (wissenschaftlichen) Nachwuchs.

Fachwissen versus Populäres Wissen

Noch ein Wort zum bisher nicht erwähnten populärem Wissen. Nach Fleck ist es durch Gewissheit, Einfachheit und Anschaulichkeit ausgezeichnet. Es ist nicht ein Abklatsch bzw. reduzierte Fassung eines einschlägigen Fachwissens sondern es hat einen eigenen Charakter: So wenig dies vermutet wird, stellt es die Grundlage der Ausübung von Fachwissens dar! Jeder Gelehrte ist im Nachbarfach nur mehr gebildeter Laie und in vielen anderen Gebieten bloß ein Diletant. So wie der praktische Arzt vom bakteriologischen Spezialisten eine vereinfachte, sich nicht mit vielen Wenns und Aber verkomplizierte sondern anschauliche bzw. verständliche Zusammenfassung bekommt, so ist jeder Experte auf diese Popularisierung bei der Ausübung seiner Arbeit angewiesen. Mit jeder dieser Mitteilungen wird Wissen aus seiner esoterischer Funktion herausgelöst und bekommt einen exoterischen, populären Charakter.

Es sind vor allem die populären Bücher, die WissenschaftlerInnen berühmt machen. Popularisierung erfordert nicht nur hohes Fachwissen sondern vor allem auch dessen Durchdringung. Es muss eine vertretbare Ordnung in der Kakaphonie der widersprechenden Daten und Lehrmeinungen geschaffen werden

Gewissheit, Einfachheit, Anschaulichkeit entsteht erst im populären Wissen; den Glauben an sie als Ideal des Wissens (bzw auch der Wissenschaft, pb) holt sich der Fachmann von dort. Darin liegt die allgemeine erkenntnistheoretische Bedeutung populärer Wissenschaft. (Fleck:152, Hervorhebung im Original)

Zusammenfassung

Die oben erwähnten Enzyklopädien lassen sich meiner Meinung nach in ihrer Strategie sehr gut mit dem Raster der drei Geltungsansprüche, die ich von Jürgen Habermas (Theorie des kommunikativen Handelns) adaptiert habe, analysieren. Wenn Zeit bleibt möchte ich diese These in den nächsten Tagen in einem Artikel ausführlicher - und vor allem mit Datenmaterial aus den untersuchten Enzyklopädie darlegen.

Literaturhinweise:

Fleck, Ludwik. 1980. Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache: Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv. 1. Aufl. Suhrkamp.

---. 1983. Erfahrung und Tatsache: Gesammelte Aufsätze. 2. Aufl. Suhrkamp.

Habermas, Jürgen. 1995. Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des Kommunikativen Handelns. 2. Aufl. Suhrkamp.

---. 2006. Theorie des kommunikativen Handelns. 6. Aufl. 2 Bd. Suhrkamp.

Polanyi, Michael. 1974. Personal Knowledge: Towards a Post-critical Philosophy. Corr. Ed. University of Chicago Pr.

---. 1985. Implizites Wissen. Suhrkamp Verlag KG.

Re:Modelle kooperativer Wissensproduktion

Kommentar von Ben Zimmermannam 05.08.2008 15:29

Wirklich gute Aspekte, um die vielfältigen Formen der Wissensgenerierung und -Ordnungen im Internet zu gliedern. Allerdings fehlt mir bei der Unterscheidung in Google Knol und Wikipedia die wichtige Frage, nach der Art der Stillstellung der Wissensgebiete.
Wikipedia ist doch dazu ausgerichtet, vor dem Hintergrund eines möglichst einfachen Referenzfeldes einen Wissensbereich zu erfassen. Es handelt sich um eine Art Nachschlagewerk, bei dem man ausgehend vom jeweiligen Begriff eine Auffüllung mit den wichtigsten Wissenspartikeln und Konzepten sucht. Bei Google Knol ist der Begriff weniger stillgestellt, sondern wird im vielfältigen Spektrum unterschiedlicher Schreiber und deren Sichtweisen erörtert. Für jemanden, der mit der Unbestimmtheit verschiedener nebeneinander existierender Meinungen zurecht kommt, eine tolle, weil die Komplexität der Lebenswelt abbildende Ordnung. Für jemanden, der sich anhand der Stillstellung eines Begriffes eher orientieren möchte, sicherlich eher problematisch. Ich könnte mir vorstellen, dass die Nutzerzahlen der beiden Wissensordnungen auch das Verhältnis der Internet-Gesellschaft zu der Grundfrage zeigt, ob man mit der "neuen Unübersichtlichkeit" gut zurecht kommt oder sie gerne vereinfachen würde.

Re:Modelle kooperativer Wissensproduktion

Kommentar von larsgraesser am 07.08.2008 11:26

Spannende (Vor)Überlegung! Wird sich die "Online first"-Strategie - der Text ist ja eine Vorschau - auch im wissenschaftlichen Bereich durchsetzen? Bis dato versuchen damit eigentlich Zeitungen ihr Glück, meine ich, und werden dafür zum Teil heftig angegriffen. Hier merke ich noch nichts davon. Werden die Kommentare in die Publikation einfließen, der sonst anschließende Diskurs durch die Blogveröffentlichung vorweg genommen bzw. die Produktion wissenschaftlicher Texte diskursiver oder sollte ich sagen; kooperativer? Bin gespannt. Vor dem Web 2.0 wurden Vorüberlegungen eher in Vortragsform veröffentlicht und jetzt eben im Blog oder irre ich?

Stillsetzung - Re: Modelle kooperativer Wissensproduktion

Kommentar von baumgartner am 07.08.2008 13:51

Zur "Stillsetzung" habe ich mir auch schon Gedanken gemacht: Verschiedene Enzyklopädien (auch die Wikipedia) arbeiten bzw. bei Wikipedia experimentieren mit dem (vorläufigen) Stillsetzen des erreichten Artikelstands. Im welchem Verhältnis die dynamische Weiterentwicklung und die Fixierung des Inhalts steht, ist eine spannende Frage. Vor allem: Wer bestimmt, wann fixiert werden darf? Und wer bestimmt, wenn eine neue Version wieder als Standard "still gesetzt" wird.

Publikationsstrategie - Re: Modelle kooperativer Wissensproduktion

Kommentar von baumgartner am 07.08.2008 13:51

Die "Vorschau" meiner Idee ist wirklich erst ein Gedankensplitter. In den letzten Tagen habe ich bemerkt, dass die Aufbereitung für einen wissenschaftlichen Beitrag etwas ganz anderes darstellt. Das beginnt einmal bei den ausführlichen Recherchen, die nicht nur neue Daten, sondern auch für mich neu zu interpretierende Informationen und (Gegen-)Argumente bedeuten. Außerdem gilt es die Argumentation auf eine solidere Basis mit entsprechenden Referenzen zu belegen. Wesentlich neu z.B. für meinen Artikel wird die Untersuchung der Redaktionspolitik (editorial policy) und der Steuerungsstruktur (Governance) sein. Das sind alles Punkte, die ich im Weblog-Eintrag noch gar nicht ausführlich behandelt habe. Entweder wird mein wissenschaftlicher Beitrag noch mehrmals durch Weblog-Einträge "aktualisiert" werden oder er wird sich ganz wesentlich von meinem bisherigen Weblog Eintrag unterscheiden. Wahrscheinlich werde ich mich aus Zeitgründen für die zweite Version entscheiden. Außerdem ist auch das Zielpublikum ein anderes, daher auch die Schreibweise entsprechend anders zu gestalten. Ganz unabhägngig werde ich all diese Ideen durchaus in meinen Vorträgen verwenden. Die Vorträge sind in diesem Falle immer so etwas wie eine Vorausschau auf meine zukünftigen wissenschaftlichen Beiträge.

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