GLL-05: Unbestreitbare versus umstrittene Tatsachen

Das Kapitel zur 4. Unbestimmtheit ist doppelt so umfangreich (60 Seiten) wie die Abschnitte der anderen Unbestimmtheiten (ca. 30 Seiten). Das liegt aber nicht daran, dass diese Unbestimmtheit besonders schwierig zu erklären ist. Vielmehr nutzt Latour dieses Kapitel auch um auf die (noch relativ kurze) Geschichte der ANT einen Rückblick zu werfen. Ich möchte jedoch in einem ersten Schritt diese historische Aufarbeitung überspringen und im Sinne der Mainstream-Argumentation mit der
Beschreibung der Unbestimmtheiten fortfahren.

Das Kapitel zur 4. Unbestimmtheit ist doppelt so umfangreich (60 Seiten) wie die Abschnitte der anderen Unbestimmtheiten (ca. 30 Seiten). Das liegt aber nicht daran, dass diese Unbestimmtheit besonders schwierig zu erklären ist. Vielmehr nutzt Latour dieses Kapitel auch um auf die (noch relativ kurze) Geschichte der ANT einen Rückblick zu werfen. Ich möchte jedoch in einem ersten Schritt diese historische Aufarbeitung überspringen und im Sinne der Mainstream-Argumentation mit der Beschreibung der Unbestimmtheiten fortfahren.

[Ich bin mir ja sowieso bereits etwas unsicher geworden, wie viele Mitreisende es noch gibt. Vielleicht ist das vorgelegte Tempo auch etwas zu schnell? Jeder von uns hat schließlich noch ganz andere Sachen zu tun. Einmal "ausgestiegen" ist es wahrscheinlich schwierig den Anschluss wieder zu finden.  Hat die Reise einmal begonnen ist es schwierig unterwegs  wieder einzusteigen. Ich hoffe aber sehr, dass es auch für spätere LeserInnen Sinn macht diese Reise – dann durchaus in einem individuellen Tempo – selbständig nachzuvollziehen.]

Matters of Fact versus Matters of Concern

Bisher haben wir 3 Unbestimmtheiten kennen gelernt, nun kommt eine vierte Unbestimmtheit hinzu:

  1. Es gibt keine fixen, klar abgegrenzten, sozusagen vorgefertigte Gruppen. Vielmehr haben wir es mit einer Bewegung, einem ständigen Fluss von Umgruppierungen zu tun.
  2. Es gibt keine klar definierten Akteure, die als "Atome" des gesellschaftlichen Handelns gelten können. Vielmehr ist der Blick auf die ganzheitliche Existenzformen von Situationen zu richten, die ihrerseits Akteure zum Handeln bringen.
  3. Es gibt keine ausreichenden Erklärungen, wenn wir uns auf die zeitlich kurzen und räumlich engen Grenzen von face-to-face Interaktionen beschränken. Vielmehr müssen wir die Vermittlungen von Objekten jeglicher Natur über lange und komplizierte Ketten auf- und nachspüren.
  4. Es gibt keine unbestreitbare Tatsachen (matters of fact). Vielmehr müssen wir davon ausgehen, dass alle "Tat"-Sachen gemacht werden und – zumindest zum Zeitpunkt der Konstruktion – umstritten sind (matters of concern), dh. durchaus eine andere Richtung einschlagen oder andere Potentiale entwickeln können.

Die deutsche Übersetzung von matters of fact bzw. matters of concern hat aus meiner Sicht einen Vor- und einen Nachteil. Einerseits zeigt das Wortspiel unbestreitbar/umstritten schön den Gegensatz auf, andererseits geht aber die Mehrdeutigkeit von "concern" verlorgen:  Wichtig sein,  (für jemand) von Bedeutung sein, aber auch beunruhigen, Sorgen machen.

Tatsachen sehen nur deshalb so "kritikfest" aus, weil sie sich uns bereits als fertige Dinge, als Endprodukte präsentieren. Wir sehen nicht mehr die Windungen und Wendungen ihrer Entstehung, ihre unsystematische oft qualvolle Entwicklung, die auch zu bestimmten Zeitpunkten ganz anders verlaufen hätte können. So wie "Gesellschaft" ist auch "Natur" ein Kollektor, eine Versammlung assoziierter Objekte. "… es gibt keinerlei direkte Beziehung zwischen wirklich zu sein und unbestreitbar zu sein." (194)

Zum Entstehungsort gehen, die Baustelle besuchen

So wie wir bei den ersten drei Unbestimmtheiten vor allem die Kontroversen entfalten müssen, so müssen wir auch die Kontroversen über (wissenschaftliche) Tatsachen aufspüren und nachzeichnen. Das geschieht am Besten dort, wo die Tatsachen entstehen, wo sie konstruiert werden. Nur an diesen Entstehungsorten bietet sich

auch die seltene Gelegenheit, einen Blick auf die Entstehung, die Emergenz eines neuen Dings zu werfen, dessen Zeitlichkeit auf diese Weise kenntlich wird. Noch wichtiger ist jedoch, daß, wenn man an irgendeine Baustelle geführt wird, man die irritierende und erfrischende Empfindung hat, daß die Dinge anders ein könnten, oder zumindest, daß sie immer noch scheitern könnten – eine Empfindung, die angesichts des Endprodukts niemals so stark ist, ganz gleich, wie schön oder beeindruckend es sein mag. (153)

Nur an den Enstehungsstätten, an den Baustellen, den "construction sites" (leider vermittelt das deutsche Wort "Konstruktionstätte" nicht diesen unfertigen, unübersichtlichen und z.T. chaotischen Charakter) kann das, was zu einer "natürlichen, objektiven und unbestreitbaren Tatsache" versammelt bzw. assoziiert wurde, wieder entfaltet werden, können Realität, Einheit und Unbestreitbarkeit wieder hinterfragt werden.

4 Strategien mit "Tat"sachen umzugehen

Wie schon die anderen Kapiteln zu den Unbestimmtheiten, schließt auch dieser Abschnitt mit einer Liste von 4 Handlungsstrategien für die Forschungsmethodik ab:

  1. "Tat"sachen bestreitbar machen: Tatsachen sind, wie der Name bereits sagt, gemacht, hergestellt, konstruiert. Sie existier(t)en in verschiedenen Gestalten und in verschiedenen Phasen ihrer Fertigstellung. ForscherInnen müssen sich in Situationen begeben, bzw. diese zum Teil auch durch Tricks selbst schaffen, um diese Tatsachen in ihrem Werden beobachten zu können.

In seinen beiden Büchern Science in Action und Laboratory Life werden einige solcher Kniffe beschrieben: Z.B. Verfremdung: Die Alltagssituationen wie ein Anthropologe vom Standpunkt eines Fremden beschreiben. Oder extreme räumliche Fokussierung: Die Interaktionen in einem speziellen lokalen Rahmen (z.B. den Eingangsbereich des Labors) beobachten. – Ich bin auch erst dabei diese Bücher zu lesen. Ich glaube, dass es zum Verständnis von ANT ganz entscheidend ist, diese Methoden und Techniken zu kennen. Erst damit werden die Unterschiede zu anderen Ansätzen deutlich. In diesem Zusammenhang erwarte ich mir viel von John Laws After Method, das ich gerade bestellt habe.

  • Entstehungsstätten besuchen:Der Besuch von Entstehungsstätten beschränkt sich nicht auf Labors, wie es Latour in Laboratory Life vorgezeigt hat. Eine der Vorteile zeitgenössischer Wissenschaft und Technologie ist es, dass wir überall, sozusagen auf Schritt und Tritt, auf Handlungsverläufe, d.h. auf Bewegungen und Prozesse stoßen, wo wir die Entstehung der Tatsachen mitverfolgen können.In diesem Zusammenhang ist auch die Bedeutung von Social Media herausragend, weil die entsprechenden Werkzeuge ideal für das präzisere Verfolgen von Assoziationen sind. Oder nach einem Wortspiel von Latour: Das World Wide Web wird zum World Wide Lab. Ein gutes Beispiel sehen wir gerade in der Kontroverse um den Schweinegrippe-Virus (vgl. z.B. die unermüdliche Auflistung und Chronik dieser Kontroverse bei Alfred Stehbeck über Weblog und Twitter). Noch ist der Nutzen der Impfung umstritten und gibt es Pro- und Kontra-Argumente. In ein paar Wochen hat sich vielleicht aber die Waage zu einer der beiden Positionen geneigt und wir haben es mit einer unbestreitbaren, natürlichen und objektiven Tatsache zu tun.
  • Wissenschaftliche Praxis als lokale Experimente betrachten: Latour bezeichnet die wissenschaftliche Praxis als "Drosophilader Sozialtheorie" (208). Er spielt damit nicht nur auf die tausendfache Varianten der "Fruit Flies" (Taufliegen?) an, sondern auch darauf, dass sie allgegenwärtig sind und daher gut beobachtet werden können.Die wissenschaftliche Praxis ist in diesem Sinne ebenfalls in vielfältiger Form vorhanden: Gemeinst sind hier nicht nur Kongresse und Publikationen sondern vor allem Kontroversen in allen möglichen Medien (Zeitungen, Fernsehen, Internet) und Formen (Dispute, Diskussionsrunden, Expertenpanels, widersprüchliche Gutachten etc.). Durch die aufmerksamek Beobachtung dieser "Existenzformen von Wissenschaft" können wir relativ leicht das "making of facts" beobachten und nachzeichnen.
  • Öffentliche Kontroversen über "Naturdinge": Gerade die in letzter Zeit immer heftigeren Dispute über Naturgesetze bringen nun auch immer stärker die scheinbar unbestreitbaren Naturphänomene ins Gerede. Das zeigt eindringlich, dass es keine natürliche Tatsachen gibt, sondern dass letztlich auch scheinbare klare Sachverhalte bestritten werden können – und es auch tatsächlich werden!Sind z.B. die in letzter Zeit scheinbar häufiger auftretenden Unwetterkatastrophen "natürlich" dh noch im statistischen Mittelmaß oder bereits erste Anzeichen der drohenden Klimakatastrophe? Oder noch grundsätzlicher: Gibt es überhaupt die Gefahr einer Klimakatastrophe? (z.B hier) Wird der Large Hadron Collider (LHC) auf der Suche nach dem Higgs Bosom ein schwarzes Loch generieren und damit das Universum sprengen? (z.B. hier). Hilft oder schadet die Impfung gegen Schweinegrippe? (zB. hier)

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