Promotion Herzog: Kollaborative Steuerungsprozesse bei der Wikipedia

Wieder hat einer der Doktoratsstudierenden, die ich als Erstbetreuer, -gutachter und -prüfer begleite, promoviert: Herr Johann Herzog hat in seiner Dissertation die kollaborativen Prozesse bei der Artikelproduktion in der Wikipedia im Detail nachgezeichnet und durch eigens entwickelte Maßzahlen eine Typisierung der verschiedenen Formen der Zusammenarbeit vorgeschlagen.

Wieder hat einer der Doktoratsstudierenden, die ich als Erstbetreuer, -gutachter und -prüfer begleite, promoviert: Herr Johann Herzog hat in seiner Dissertation die kollaborativen Prozesse bei der Artikelproduktion in der Wikipedia im Detail nachgezeichnet und durch eigens entwickelte Maßzahlen eine Typisierung der verschiedenen Formen der Zusammenarbeit vorgeschlagen.

Die Wikipedia ist ein soziales Phänomen. Mit über 400 Mio. BesucherInnen bereits im März 2011 (Daten: comScore) ist sie nicht nur zur größten Internetenzyklopädie
angewachsen, sondern hat weiterhin eine ungebremste Dynamik, die sich z.B.
darin zeigt, dass alleine in der deutschen Version weiterhin 300-400 Artikel täglich produziert werden.

  • Wie ist es möglich, dass die „Wikipedia“ in bloß 11 Jahren rund 21 Millionen Artikel (davon alleine 3,9 Mio. in Englisch und 1,4 Mio. in Deutsch) in 280 Sprachen produziert hat?
  • Was motiviert die über 16 Mio. registrierten NutzerInnen und vor allem die über 85.000 aktiven ArtikelschreiberInnen
    einen nicht unbeträchtlichen Teil ihrer Lebenszeit kostenlos für diese Initiative einzusetzen?
  • Worin bestehen die Erfolgsfaktoren für dieses außergewöhnliche Gemeinschaftsprojekt, das ohne ökonomischen Verwertungsnutzen allein auf freiwilliger Basis – selbst die Finanzierung der hauptamtlichen MitarbeiterInnen basiert auf Spenden – die vorherrschenden kapitalistischen Geschäftsmodelle konterkariert?

 Artikelerstellungsprozess als Ansatzpunkt für die empirische Untersuchung

Diderot und seine EnzyklopädieUrsprünglich wollte der Autor eine Antwort aus dem systematischen Vergleich mit anderen –
weniger erfolgreichen – Internetenzyklopädien wie Scholarpedia, Citizendium, Nupedia und Wikinfo
erschließen. (Siehe dazu auch noch das ursprüngliche Exposé auf meiner Website, die in den nächsten Tagen aktualisiert bzw. ergänzt wird.) Doch bald stellte sich heraus, dass damit dieses – im Vergleich zu der Große Enzyklopädie von Diderot (siehe nebenstehenden Bild) – noch viel größere und umfangreichere –  „vernünftige Ungeheuer“ (Philipp
Blom
), so nicht zu zähmen ist. Es fehlt vor allem an detailliertem Datenmaterial, das als Ansatzpunkt
für eine empirische Untersuchung herangezogen werden kann und aus dem sich entsprechende
Maßzahlen für die weitere (vergleichende) Analyse ziehen lassen.

Konsequenterweise hat Herr Herzog daher seine relativ offene Fragestellung in zweifacher
Hinsicht fokussiert: Er konzentrierte sich einerseits auf das Erfolgsmodell „Wikipedia“ und grenzt andererseits
seine Analyse – sowohl in quantitativer als qualitativer Hinsicht – auf des Prozess der Artikelerstellung
ein. Dazu zog er aus der deutschsprachigen Wikipedia eine Zufallsstichprobe
von 100 Artikeln, deren Produktionsprozesse er anschließend detailliert untersuchte. Dabei
entwickelt er in kreativer Weise eine ganze Reihe von neuen Kennziffern, die er dann exemplarisch
an vier ausgewählten Beispielen zur Interpretation des Datenmaterials eingesetzt hat.

Bei diesem „Hineinzoomen“ verwendet er zum Aufschließen des umfangreichen Datenmaterials
einerseits Software-Werkzeuge (Dienstprogramme) aus der Wikipedia-Community, die er im Zuge
seiner Auseinandersetzung mit der Internet-Enzyklopädie entdeckt hat, andererseits jedoch inspizierte und bewertete er für die vier ausgewählten Beispiele jeden einzelnen Bearbeitungsvorgang auch qualitativ, d.h. „manuell“, ohne technische Hilfsmittel.

Typologie der Zusammenarbeit

Wikipedia - ArtikelzahlenDiese detailreiche Analyse eröffnete den
Blick auf einen bisher relativ verborgenen – jedoch enorm reichhaltigen und extrem komplexen –
Mikrokosmos von Interaktionen und Prozessen.
Dementsprechend gibt es auch eine ganze Reihe von neuen Ergebnissen, die ein Licht auf die
(anonymen) Steuerungsprozesse bei der Artikelproduktion werfen.

Eines der wesentlichen Resultate
der Untersuchung besteht darin, dass vier unterschiedliche Typen der Artikelsteuerung unterschieden
werden können:

  1. Steuerungstyp 1: Wenige AutorInnen mit wenig Bearbeitungen („Edits“) machen eine Absprache
    und Kommunikation zwischen den teilnehmenden ArtikelproduzentInnen nicht
    notwendig. Charakteristisch für dieses Steuerungsmodell ist, dass in der Anzahl der Bearbeitungen
    zwischen den (wenigen, etwa fünf) hauptsächlichen beteiligten AutorInnen zu den
    NebenautorInnen, die nur kleine Änderungen vornehmen, eine Gleichverteilung in der Anzahl
    (aber nicht des Umfangs!) der Bearbeitungen herrscht.
  2. Steuerungstyp 2: Ebenfalls wenige (wiederum etwa fünf) AutorInnen bearbeiten den Artikel weitaus häufiger
    als die restlichen (Neben-)AutorInnen von denen sie kommentarlos (z.B. durch kleinere Ergänzungen,
    Richtigstellungen oder Formalia) unterstützt werden. Auch für dieses Steuerungsmodell
    ist keine Absprache zwischen den AutorInnen notwendig.
  3. Steuerungstyp 3: Dieses Steuerungsmodell unterscheidet sich definitionsgemäß vom vorigen
    Modell einzig und allein dadurch, dass für die Steuerung nun eine begleitende, jedoch relativ begrenzte –
    d.h. nicht kontroverse – Kommunikation auf der Diskussionsseite stattfindet.
  4. Steuerungstyp 4: Es arbeiten nicht nur viele Haupt- (etwa 10) sondern auch viele NebenautorInnen
    an dem Artikel. Außerdem wird auch eine intensive, z.T. kontroverse Diskussion
    über die Artikelinhalte geführt.

Die dabei verwendeten Grenzen (fünf bzw. zehn HauptautorInnen) sind nicht willkürlich gewählt, sondern haben sich nach einer Auswertung der Stichprobe als relativ konsistentes Abgrenzungskriterium ergeben. Typ 2 und 3 mit jeweils 38% machen den Hauptteil (drei Viertel!) der Artikel in der Wikipedia aus,
während Modell 1 16% bzw. Modell 4 gar nur 6% an der Gesamtzahl der Artikel in der deutschen Wikipedia ausmachen.

Weitere Ergebnisse

Weitere interessante, z.T. sogar überraschende Ergebnisse der detaillierten Analyse sind:

  • Das Diskussionsforum zu einem Artikel wird auch häufig von NutzerInnen der Wikipedia genutzt,
    die keine aktiven Bearbeitungen an dem betreffenden Artikel vornehmen. Die Diskussionsseite
    hat daher auch eine soziale „Marktplatz“-Funktion, wo sich TeilnehmerInnen über
    Themen austauschen, die kaum oder nur am Rande für die Artikelproduktion interessant
    sind.
  • Die HauptautorInnen – insbesondere bei den Steuerungstypen 2 und 3 – sind häufig NutzerInnen
    der Wikipedia, die in der Statistik bisher (noch) nicht zu den aktivsten AutorInnen
    zählen, oft sogar erst bei einigen wenigen Artikel schreibend mitgewirkt haben. NebenautorInnen
    hingegen, die bloß kleinere Korrekturen vornehmen sind häufig sehr erfahrende WikipedianerInnen,
    die bereits hunderte, tausende oder sogar hunderttausende Bearbeitungen
    durchgeführt haben.
  • Eine große Anzahl von MentorInnen (das sind nach der Definition von Herrn Herzog AutorInnen,
    die – wie geringfügig auch immer – an mehreren Tagen an einem bestimmten Artikel
    Bearbeitungsvorgänge durchgeführt haben), überwachen die für sie interessanten Beiträge
    und greifen bei Störungen durch Vandalismus sofort (oft innerhalb von wenigen Minuten!)
    ein und setzen den Artikelstatus wieder zurück.
  • Sowohl viele Dienstprogramme als auch
    automatisierte Routinen (sog. Bots) unterstützen das komplexe System der Internet-Enzyklopädie indem sie spezielle Artikelmerkmale untersuchen und auflisten bzw. auch
    gleich automatisch reparieren.

Publikation zu den Steuerungsstrukturen und Trends in der Wikipedia geplant

Es ist daran gedacht diese Untersuchung mit weiteren Wikipedia-Aspekten und Trends zu konfrontieren und die dann umfassenderen, allgemeineren und damit aussagekräftigeren Ergebnisse später in einem eigenen Buch zu publizieren. Dabei geht es auch um eine Beschreibung der Qualitätssicherungsprozesse, sowie um Trendaussagen. So ist beispielsweise die Wikipedia laut einer Studie der Wikimedia Foundation seit einem Einbruch der Wachstumsraten zwischen Mitte 2005 bis Anfang 2007 mit einem langsameren Wachstum konfrontiert, dass sich vor allem dadurch auszeichnet, dass insbesondere die Neuzugänge von - potentiellen AutorInnen – sich sehr rasch wieder verabschieden und auch die "alten Hasen" sich langsam aber doch in einer nicht zu ignorierenden Zahl ausscheiden.

Imagine a world in which every single person on the planet is given free
access to the sum of all human knowledge. That's what we're doing.
(Wikipedia Gründer Jimmy Wales)

Es liegt die Vermutung nahe, dass die Ursache in einem inzwischen stark angewachsenen komplexen Regelungsmechanismus zu suchen ist, der mit einer hierarchischen Struktur der BenutzerInnen gekoppelt ist. Es gibt inzwischen (ohne Rangordnung aufgezählt): Bürokraten, Schiedsgericht, CheckUserInnen, AdministratorInnen, passive und aktive SichterInnen, stimmberechtige BenutzerInnen, bestätigte BenutzerInnen, angemeldete und nicht angemeldete BenutzerInnen sowie Stewards und andere projektübergreifende BenutzerInnen-Gruppen. Damit werden zusehends die wichtigsten Grundprinzipien der Wikipedia wie z.B. "Sei mutig" oder noch radikaler "Ignoriere alle Regeln" zunehmend außer Kraft gesetzt werden. ("Ignorieren" bedeutet übrigens nicht "brechen", sondern nur, dass BenutzerInnen nicht alle Regeln kennen und beherrschen müssen, um bei der Wikipedia mitmachen zu können/dürfen.)

Schwarmforschung (Crowdresearching) zu Kooperationsprozesse im Web 2.0?

In einem weiteren Schritt wäre es aus meiner Sicht wichtig, dass die in der Wikipedia zu beobachtenden kollaborativen Steuerungsprozesse auch für andere Web 2.0-Anwendungen zu verallgemeinern. Ich denke hier vage über eine gemeinsame Publikation nach, die vielleicht dieses größere, recht engagierte Unternehmen (Steuerungsprozesse bei der Kooperation in Web 2.0-Anwendungen) auch in einer neuen Forschungsform "Crowdresearching" nachgehen könnte.

Die Auslagerung kreativer Aufgaben (Crowdsourcing), die gemeinschaftlich im Sinne einer Schwarmintelligenz bereits zu verschiedenen komplexen Problemstellungen gebildet wurden, gibt es ja bereits für Crowdfunding-Plattformen, und dabei sogar speziell für wissenschaftliche Projekte (IamScientist). Es gibt Crowdsourcing auch bereits zu inhaltlichen Zusammenarbeitsprojekten zu Crowdpublishing und Crowdwriting, warum also nicht zu einer massenhaften kooperativen Forschungsprozess. Ich bin übrigens nicht der erste, der auf die Idee gekommen ist, wie mir eine Websuche gezeigt hat (vgl. den Beitrag im dem niederländischen Weblog Now It's Our Time, den ich dabei gefunden habe).

Ich könnte mir vorstellen, dass dies auch eine neue Form der Aus- und Weiterbildung darstellt, wenn z.B. eine kleine Gruppe von "Leading Scientist" eine große Gruppe von NachwuchsforscherInnen bei der kooperativen Ausarbeitung einer gemeinsamen Forschungsfrage unterstützt und nicht nur die (Zwischen-)Ergebnisse, sondern der gesamte Forschungsprozess auf einer Plattform dokumentiert wird. Mir fehlen im Augenblick die zeitlichen Ressourcen solch eine Sache in die Hand zu nehmen. (Das könnte sich aber vielleicht nächstes Jahr schon ändern, wenn Ausfälle wegen Krankheit und geplante Nachbesetzungen in meinem Forschungsbereich mich entlasten.)

Wer würde sich dafür interessieren? Kommentare, Anregungen und Meinungen sind sehr erwünscht!

*****

Meine Betreuungskapazität für das LLL-Kolleg ist wieder ausgebucht

Bei dieser Gelegenheit: Mein Aufruf, dass ich wieder DissertantInnen zur Betreuung im Rahmen des LLL-Kollegs an der Universität Klagenfurt aufnehme (vgl. meinem Eintrag Zwei Doktoratsprogramme) hat sich inzwischen erledigt, da ich bereits wieder meine geplante maximal Gruppengröße erreicht bzw. überschritten habe. Wenn alles klappt, dann werden nächstes Semester wieder 3-4 Kandidaten abschließen, so dass ich Frühjahr 2013 wieder aufnehmen kann.

Die Möglichkeit zu einschlägigen Themen mit meiner Unterstützung zu promovieren, gibt es jedoch weiterhin. Allerdings nur im Zusammenhang mit einer Promotion an einer englischen Universität (siehe ebenfalls den bereits erwähnten Beitrag Zwei Doktoratsprogramme).

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