Schraffl Peter

Projekt- und erfahrungsorientierte kaufmännische Berufsbildung vor dem Hintergrund einer sinn- und personenorientierten Pädagogik. (Dissertation an der Sozial- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Innsbruck, 2001)

Projekt- und erfahrungsorientierte kaufmännische Berufsbildung vor dem Hintergrund einer sinn- und personenorientierten Pädagogik. (Dissertation an der Sozial- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Innsbruck, 2001)

Peter Schraffl
Dr. Peter Schraffl

Auf dem Seminar ‚Lernen im Zeitalter des Internet’, vom 21. - 23. August 2000 in Bressanone schrieb mir E. v. GLASERSFELD als Widmung in sein Buch Radikaler Konstruktivismus (1997a): „Was man lernt, das muss man auch ausprobieren“. Dies scheint hervorragend den Grundgedanken dieser Arbeit zu kennzeichnen! Die Inhalte und die Methoden, die die Schüler der kaufmännischen mittleren und höheren Schulen in den einzelnen Gegenständen des Fächerkanons lernen, das müssen sie ausprobieren können, damit Zusammenhänge ersichtlich werden und ein Sinnverständnis sich entwickeln kann. Für mich als Lehrer sind die großen Reformbewegungen in der Entwicklung des kaufmännischen Schulwesens eine große Herausforderung und andererseits zeigen diese Entwicklungen sehr deutlich, wie rasch der technologische Fortschritt Veränderungen und Anpassungen – permanentes Lernen - bedingt und erforderlich macht. Projekt- und erfahrungsorientierte kaufmännische Berufsbildung möchte ein ganzheitliches Ausbildungskonzept beschreiben, das im Lehrplan 1994 normiert und als kaufmännische Übungsfirma bezeichnet wird, die besonders geeignet erscheint, jene Schlüsselqualifikationen, zu fördern und zu entwickeln, die in der Leitidee der beruflichen und persönlichen Handlungskompetenz umschrieben werden. Gefordert wird die Modellierung eines entsprechenden Lehr-/Lernarrangements, das diesen Zielsetzungen gerecht werden kann. Der Transfer, d.h. die Übertragung und Anwendung des Wissens und Könnens, das im Fächerkanon der Handelsakademie und Handelsschule vermittelt wird, soll auf betriebliche Entscheidungs- und Handlungsprozesse übertragen und in Simulation ausgeführt und geübt werden.

Im ersten Abschnitt werden die Zielsetzungen und die persönlichen Intentionen bzw. Beweggründe offen gelegt, damit ein Verständnis und die Bezugspunkte transparent werden können, aus dem sich die intensive Beschäftigung mit dieser Entwicklung und mit deren Umsetzung als Beobachter und Beteiligter sich rechtfertigen lässt. Schwerpunktmäßig werden die Eckpfeiler dieses Reformwerks skizziert mit den daraus abgeleiteten Folgerungen für ein projekt- und erfahrungsorientiertes Ausbildungsmodell. Die Arbeit trägt den Titel: ‚Projekt- und erfahrungsorientierte kaufmännische Berufsbildung vor dem Hintergrund einer sinn- und personenorientierten Pädagogik’. Daraus lassen sich zwei zentrale Fragestellungen ableiten:

  1. Wie ist ein projekt- und erfahrungsorientiertes kaufmännisches Ausbildungsmodell unter der Leitidee der beruflichen und persönlichen Handlungskompetenz zu gestalten?
  2. Wie können die Lehr-/ Lern- und Arbeitsprozesse der Akteure vor dem Hintergrund einer sinn- und personenorientierten Pädagogik gestaltet und initiiert werden?

Das ÜFA-SQ-MODELL mit seinen Akteuren stellt ein Lehr-/Lernarrangement dar, das die kaufmännische Übungsfirma nach dem Lehrplan 1994 interpretiert und die Leitidee der beruflichen und persönlichen Handlungskompetenz mit der Selbst-, Fach-, Methoden- und Sozialkompetenz vor dem Hintergrund einer sinn- und personenorientierten Pädagogik zu gestalten und umzusetzen versucht.
Im zweiten Kapitel werden erkenntnistheoretische Überlegungen und die methodische Vorgangsweise dargelegt. ESCHERS Zeichnen und die Bildgalerie dienen der bildlichen Präsentation der erkenntnistheoretischen Grundlagen für dieses Lehr-/Lernarrangement. Dieses ÜFA-SQ-MODELL wird als autopoietisches System gedeutet, indem die Akteure und ihre Lehr-/ Lern- und Arbeitsprozesse durch die Chiffren eines autopoetischen Systems analysiert und interpretiert werden. Diese Chiffren der kaufmännischen Übungsfirma als autopoietisches System sind:

  •         Selbstorganisation und Autonomie
  •         Lernen durch Koevolution
  •         Viabilität und Kontingenz
  •         Zirkularität des Lernens
  •         Toleranz und Verantwortung

Die Analyse zeigt, dass dieses Lehr-/Lernarrangement nur durch die Aktivitäten und Handlungen der Akteure lebendig und damit der Erfahrung zugänglich gemacht werden kann. Die funktionale Sicht der Viabilität wird ergänzt durch die Perspektive einer sinn- und personenorientierten Pädagogik. Hier wird versucht die Aspekte der Person des Auszubildenden einzubeziehen und auch zur Entfaltung zu bringen, damit die Ausbildung nicht im funktionalen Bereich stehen bleibt, d.h. sich reduziert auf die Vermittlung und das Training von sogenannten skills. Diese Fragestellungen werden auf der Grundlage der Existenzanalyse und der Logotherapie beantwortet (FRANKL 1994; FRANKL 1983;). Menschsein im Sinne der Existenzanalyse und Logotherapie bedeutet Person werden, d.h. die Person ist ständig mit Situationen konfrontiert, von denen jede gleichzeitig Gabe und Aufgabe ist. Was sie uns aufgibt, ist die Erfüllung ihres Sinnes und was sie uns gleichzeitig gibt, ist die Möglichkeit bzw. die Chance, durch diese Sinnerfüllung uns selbst zu verwirklichen. Das Paradox das den dialektischen Charakter des Menschen kennzeichnet, zu dessen Grundzügen „seine ewige Unabgeschlossenheit und Sich-selbst-Aufgegebenheit gehören: seine Wirklichkeit ist eine Möglichkeit, und sein Sein ist ein Können. Niemals geht der Mensch in seiner Faktizität auf. Mensch-sein [...] heißt nicht faktisch sondern fakultativ sein“ (FRANKL 1983, 92)! In diesem Paradox liegt auch das Verständnis des Resümees begründet. Letztendlich können Lernumfelder nur notwendige aber keine hinreichenden Bedingungen für die Entwicklung und Förderung der beruflichen und persönlichen Handlungskompetenz sein. Nach FOERSTER entscheidet nicht der Reiz über den Output, sondern der Organismus (FOERSTER 1997(3), 74). Existenzanalytisch liegt in der Autonomie und Entscheidungsfreiheit der Person die Möglichkeit, sich durch den Aufforderungscharakter der Situation angesprochen zu fühlen und zu antworten. Diesen Aufforderungscharakter jeder Situation als Chance der Wertrealisation zu betrachten und dadurch Sinnmöglichkeiten zu finden, führen letztlich zur persönlichen und beruflichen Entwicklung jedes Einzelnen, um täglich mehr und besser Person im Sinne FRANKLS zu werden.

In Kapitel 3 erfolgt zunächst eine Analyse der Entwicklung der Zielvorstellungen für dieses Ausbildungsmodell unter der Leitidee der beruflichen und persönlichen Handlungskompetenz und daraus wird die zentrale Bedeutung der Lernprozesse der Akteure verständlich. Zu Beginn der 90-ziger Jahre etablierte im Rahmen der beruflichen und schulischen Ausbildung die Konzeption der Schlüsselqualifikationen mit unterschiedlichen Facetten und Nuancierungen (vgl. zB REETZ 1990, 16-32; KLEIN et al 1990(2), 19-35; ARNOLD 1994, 142-155;). GRAMLINGER zeigte die für die schulische Bildung signifikanten Ausprägungen durch eine chronologische Entwicklung von ROTH unter dem Aspekt der Mündigkeit (intellektuelle, soziale und moralische Mündigkeit), über REETZ unter der Prämisse eines normativen Qualifikationsbegriffes und ACHTENHAGEN unter der Leitidee einer ökonomischen Kompetenz (GRAMLINGER 1998, 82). OTT entwickelte unter der Perspektive der Ganzheitlichkeit eine Konzeption mit den Komponenten der beruflichen Handlungskompetenz und der Persönlichkeitsentwicklung (vgl. OTT 1995, 47-80). Diese Idee setzte sich fort in der Theorie der 'lernenden Organisation' und des 'lernenden Individuums' (vgl. SENGE et al. 1997(2), 54-67; BACHMANN 1997, 23-46; HEYSE/ERPENBECK 1997, 67-108;). Im Kontext der erkenntnistheoretischen Überlegungen und des Menschenbildes der Existenzanalyse und Logotherapie werden die Lehr-/ Lern- und Arbeitsprozesse der Akteure im ÜFA-SQ-MODELL entwickelt. MANDL et al nennen folgende Annahmen für eine konstruktivistische Lernumgebung (MANDL/REINMANN-ROTHMEIER 1995, 48):

  • "Wissen ist unabgeschlossen.
  • Wissen wird individuell und in sozialen Bezügen konstruiert.
  • Lernen ist ein aktiver Prozess.
  • Lernen erfolgt in vieldimensionalen Bezügen.
  • Unterrichtsgestaltung ist vordringlich eine Frage der Konstruktion.
  • Lernende erfahren so wenig Außensteuerung wie möglich. Lehrende fungieren als Berater/Mitgestalter von Lernprozessen.
  • Unterrichtsergebnisse sind nicht vorhersagbar".

REICH (1996) hat die Grundpositionen konstruktivistischen Lernens klassifiziert als Konstruktion von bestehenden Handlungsmustern (Erfinder), als Rekonstruktion bei der Übernahme bereits bestehender Konstruktionen (Entdecker) und als Dekonstruktion bei der Möglichkeit einer kritischen Neuordnung (Enttarner). MANDL et al thematisieren den Lernprozess und den Wissenserwerb als einen aktiven, selbstgesteuerten, konstruktiven, situativen und sozialen Prozess (MANDL/REINMANNN-ROTHMEIER 1995, 53). Die Lehr-/ Lern- und Arbeitsprozesse werden als Kommunikations- und Interaktionsprozesse verstanden, in denen durch die Wahrnehmung, der durch die Reflexion identifizierten Entwicklungsmöglichkeiten bzw. Verbesserungs-potentiale, die Didaktik-Spirale in Gang gesetzt wird.
Folgende Fragenkomplexe sind von besonderer Bedeutung: Welche Voraussetzungen müssen die Übungsfirmenteilnehmer bezüglich den fachlichen und methodischen Inhalten aus dem Fächerkanon bereits erworben haben, damit dieses 'Wissen' in konkreten Situationen angewendet werden kann? Sind Erkenntnis und Einsicht bei den Teilnehmern vorhanden, dass sich Lernen immer in der Person selbst ereignet und dass es sich um einen aktiven Prozess handelt?

Sind die Akteure zur Übernahme dieses neuen Rollenverständnisses bereit? Inwieweit werden die Schlüsselprozesse in den einzelnen Abteilungen vom Übungsfirmenleiter und/oder von den Mitarbeitern der Übungsfirma gestaltet? Wie stark ist das selbstgesteuerte Lernen im Vordergrund des Übungsfirmenalltags? Gelingt die Vernetzung und Umsetzung des 'Wissens' auf neue Arbeitssituationen? Wie werden die Arbeitsprozesse begleitet im Hinblick auf die Qualitätssicherung?

In Kapitel 4 erfolgt die Darstellung der Übungsfirmenarbeit in Form einer Fallstudie, gestaltet als Portrait bzw. als ein Fotoalbum, in dem Werte dieser kaufmännischen Berufsbildung aufscheinen. Gerade die Fallstudie entspricht methodisch der Konzeption einer konstruktivistischen Betrachtungsweise, d.h. einer qualitativen Momentaufnahme im Sinne SPECHTS (1994, 40). Die Fallstudie als Bündel von Reflexionsfragen zu den Voraussetzungen, zu den Kompetenzbereichen und zur Übungsfirma als Lerngemeinschaft verfolgt das Interesse und das Ziel, die kaufmännische Berufsbildung weiter zu entwickeln und dadurch für die Schüler die Perspektive transparent werden zu lassen, wie Lernen und Arbeiten vor dem Hintergrund einer sinn- und personenorientierten Pädagogik erfahrbar und spürbar werden kann.

Welche Instrumente werden eingesetzt? Beim Untersuchungsdesign handelt es sich um eine qualitative Feldforschung, in die der Forscher involviert wird und dadurch auch Auswirkungen im Sinne von Rückmeldungen und dadurch wieder auch Veränderungen auf die erforschte Realität hat. Dies umschreibt die Intentionen der Handlungs- und Aktionsforschung, da einerseits die Kommunikation und die Zusammenarbeit mit den Übungsfirmenleitern und -mitarbeitern stattfindet und andererseits das Forschungsfeld auch Einzelfälle pädagogischer Praxis darstellt, z.B.: die untersuchten Übungsfirmen. Letztlich stellt diese Studie auch einen wichtigen Impuls für meine eigene Lehrerforschung dar und ist gleichzeitig auch Ausgangspunkt und Grundlage für die Lehrerfortbildung zum Thema: Qualität in der Übungsfirmenarbeit. Die eingesetzten Instrumente sind strukturierte Fragebögen und gleichzeitig erfolgt eine teilnehmende Beobachtung.

Kapitel 5 zieht ein Resümee und entwickelt daraus einen Ausblick für die Arbeit in der Übungsfirma, zur Leitidee der beruflichen und persönlichen Handlungskompetenz, zum Rollenverständnis der Akteure und zu den sich ereignenden Lehr-/ Lern- und Arbeitsprozessen. Aus der Analyse der gewonnen Daten werden Vergleiche mit quantitativen Ergebnissen zur Übungsfirmenarbeit durchgeführt, um sie miteinander im Sinne einer Synergie zu vereinen.


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