Googles Knol versus Wikipedia

Beim heutigen "googlen" in Google Scholar bin ich auf Google Knol aufmerksam geworden. Unter Knols versteht Google Wissenseinheiten, die von jedem von uns mit jedem Browser zu jedem beliebigen Thema in jeder beliebigen Sprache geschrieben werden können (siehe genauer: Introduction to Knol). Gegenüber den Artikeln, die unter dem Konzept der Wikipedia geschrieben werden, gibt es drei große Unterschiede: (1) Es gibt für jeden Knol-Artikel einen oder mehrere Eigentümer, (2) die Form der gewünschten Kooperation beim Artikelschreiben kann festgelegt werden und (3) es besteht die Möglichkeiten an Knols sowohl Feedback, Kommentare, Peer Reviews und dazugehörige Informationen anzuhängen.


Googles "Wissenseinheiten" stellen eine interessante Alternative zur Wikipedia dar

Beim heutigen "googlen" in Google Scholar bin ich auf Google Knol aufmerksam geworden. Unter Knols versteht Google Wissenseinheiten, die von jedem von uns mit jedem Browser zu jedem beliebigen Thema in jeder beliebigen Sprache geschrieben werden können (siehe genauer: Introduction to Knol). Gegenüber den Artikeln, die unter dem Konzept der Wikipedia geschrieben werden, gibt es drei große Unterschiede: (1) Es gibt für jeden Knol-Artikel einen oder mehrere Eigentümer, (2) die Form der gewünschten Kooperation beim Artikelschreiben kann festgelegt werden und (3) es besteht die Möglichkeiten an Knols sowohl Feedback, Kommentare, Peer Reviews und dazugehörige Informationen anzuhängen.

Aus meiner Sicht hat das Knol-Konzept gegen der Wikipedai für eine (kooperative) Wissensproduktion enorme Vorteile:

Das Kreuz mit dem neutralen Standpunkt

Die Wikipedia geht davon aus, dass sich alle AutorInnen auf einen gemeinsamen Text einigen müssen. Das erfordert die Einnahme, bzw. das Ausverhandeln eines neutralen Standpunkts (NPOV = Neutrale Point Of View). Dieser Prozess des Aushandelns, der auf den Diskussionsseiten (Talk Pages) geführt wird, ist an sich recht spannend und trägt in gewisser Weise selbst zur Entwicklung von Wissen (zumindest unter den Diskutanten) bei. Allerdings bedeutet die notwendige Konsensfindung im Rahmen des NPOV für die Wissensentwicklung auch eine ziemliche Einschränkung: Es können keine divergende Auffassungen im Detail präsentiert werden, weiter elaboriert und zur Diskussion gestellt werden. Der NPOV fungiert als "Gleichmacher", der nach Kompromissen sucht und damit unterschiedliche Meinungen glättet bzw. homogenisiert.

LeserInnen mögen einwenden, dass dies bei trivialen Fakten doch kein Problem darstellt. Was aber sind "triviale Fakten"? Die Wissenschaftsgeschichte zeigt, dass selbst bei scheinbar gesicherten Wissen mit neuen Instrumenten und Meßmethoden "Anomalien" auftreten, die nach einer anderen Interpretation verlangen. (Darüber hoffe ich – im Rahmen meiner Wissenschaftstheorie-Vorlesungen später einmal mehr zu schreiben. - Manche BesucherInnen meines Weblogs mögen sich schon gefragt haben, wieso in meiner LibraryThing-Bibliothek E-Learning fremde Bücher zur Physik und anderen Themen zu finden sind. Der Grund liegt im Sammeln von aktuellen Beispielen von "Paradigmenwechsel", die es gilt , die wissenschaftstheoretisch zu interpretieren.)

Das Kreuz mit der Anonymität

Ein anderes Problem der Wikipedia ist die Anonymität der VerfasserInnen. Zwar kann über den Reiter Versionen/Autoren (History) nachgeschaut, wer wann welchen Text geschrieben bzw. geändert hat, doch ist für die Wikipedia typisch dass es keine offensichtliche individuelle Verantwortung für die einzelnen Beiträge gibt. Bei manchen Beiträgen mag es zwar vorkommen, dass ein/e Autor/in einen wesentlichen Anteil des Artikels geschrieben hat. Das stellt im System der Wikipedia aber sogar ein Problem dar: Es ist dann nämlich nicht klar, ob der eingenommene Standpunkt tatsächlich dem NPOV entspricht bzw. nahe kommt.[1]

Weil Wikipedia keine Autorenschaft kennt, ist auch kein Rückbezug zur Persönlichkeit, die hinter den Meinungen steht, möglich. Damit wird sowohl die Authentizität der vertretenen Standpunkte unterlaufen, als auch die Entwicklung divergierender Standpunkte samt ihrer Konsequenzen im Rahmen diskursiver Prozesse. Die Folge ist eine Verwässerung der Meinung nach dem Prinzip des kleinsten gemeinsamen Teilers.

Das Kreuz mit der offenen Kooperation

Je mehr (Fach-)Leute zu einem bestimmten Beitrag involviert ist, desto höheren qualitativen Wert hat der dann erreichte neutrale Standpunkt. Im allgemeinen ist dies gleichzeitig auch ein Qualitätskriterium für Wikipedia-Einträge: Je mehr Leute an einem Artikel mitgearbeitet haben, desto sicherer kann davon ausgegangen werden, dass dieser Beitrag die Durchschnittsmeinung repräsentativ abbildet.

Zu beachten ist jedoch, dass dieser demokratisch gebildete Konsens weder eine erforderliche noch ausreichende Bedingung für die Wissensqualität darstellt. So ist es einerseits durchaus möglich, dass ein Experte alleine einen "bessere" Abhandlung schreibt als es der Konsens einer großen  Autorengruppe erlaubt. Andererseits bedeutet demokratische Meinungsbildung auch in gewissser Weise die "Diktatur der Mehrheit": So ist es bereits mehrmals bekannt geworden, dass Expertenmeinungen, die zum gegebenen Stand des Wissens "richtig" bzw. "adäquater"[2] waren, durch die Masse der AutorInnen unterdrückt wurden. (Hier wäre es schön, wenn ich einige Links dazu hätte. - Ich kann mich dunkel erinnern, dass es da eine Sache gab, wo jemand - ein bekannter Physiker oder ähnliches? – etwas korrigiert hat und diese Änderung immer wieder rückgängig gemacht wurde, bis dem Experten schließlich die Schreibrechte entzogen wurden.)

In manchen – ich behaupte sogar: in vielen – Fällen mag es zur Entwicklung von (alternativen) Positionen weit günstiger bzw. effizienter sein, wenn ganz gezielt kooperiert wird, d.h. ausgesucht mit welchen "Gleichgesinnten" die vertretene Ansicht weiter entwickelt wird. Natürlich darf dieser Standpunkt nicht gänzlich innerhalb eines hermetisch geschlossenen Raums geheim gehalten werden, sondern muss periodisch bzw. nach einem bestimmten Reifegrad zur Diskussion gestellt werden. Knol ermöglicht dies durch das Konzept der Geschlossenen Kooperation. Zusätzlich ist auch eine Moderierte Kooperation möglich, wo die Ergänzungen und Änderungen von Außenstehenden erst durch den Autor akzeptiert werden müssen. So bleibt die Verantwortung weiterhin bei namentlich zu identifizierbaren Personen. Dieses Konzept der hierarchisch abgestuften Kooperation wird noch durch "angehängte", also deutlich getrenntes Feedback und Kommentare durch eine weitere Schicht ergänzt (siehe Grafik knols-1).

Wikipedia verletzt das Prinzip der dreifachen Geltungsansprüche

Auf einer höheren theoretischen Ebene reflektiert, verletzt Wikipedia das Gesetz der dreifachen Ausrichtung der Geltungsansprüche, wie es von Jürgen Habermas in seiner Theorie des Kommunikativen Handelns ausgearbeitet wurde. Damit meint Habermas, dass jeder Sprechakt (und damit auch jede Handlung) in genau dreifacher kritisiert werden kann. Zur Verdeutlichung,was damit gemeint ist, bringe ich in meinem Vorträgen immer den Beispielssatz zum Veranstalter gewendet: "Können Sie bitte mir ein Flasche Bier bringen". Dieser Satz ist in dreifacher Weise zu hinterfragen:

  1. Normalerweise ist es nicht üblich während eines Vortrages Bier dem Referenten zur Verfügung zu stellen. (EInwand gegen den Anspruch auf normative Richtigkeit, soziale Legimität, gesellschaftliche Normen = Einwand gegen den sozialen Bezug des Geltungsanspruches)
  2. Es gibt kein Restaurant in unmittelbarer Nähe, wo Bier eingekauft werden kann. (Einwand gegen den Anspruch auf objektive Wahrheit = Einwand gegen den objektiven Bezug des Geltungsanspruchs)
  3. Der Satz dient eigentlich anderen Zwecken, ist nur als Ablenkung gedacht, um den Veranstalter aus dem Raum zu schicken. VIelleicht um in einer Abwesenheit "freier" reden zu können, eine Kritik äußern zu können etc. (Einwand gegen die persönliche Aufrichtigkeit des Sprecher, seine subjektive Aufrichtigkeit = EInspruch gegen den subjektiven Geltungsanspruch)

Zu beachten ist, dass das Konzept der Geltungsansprüche nicht direkt auf die äußere Realität Bezug nimmt, und daher auch nicht mit dem einfachen und unreflektierten Wahrheitskonzept (Wahrheit = Übereinstimmung mit der Außenwelt) gleich zu setzen ist. Nach Habermas sind diesen dreifachen Ansprüche auf Geltung allen Sprechakten bzw. Handlungen inhärent (siehe Grafik knols-2). Es lässt sich zeigen, dass dies auch für mediendidaktisches Handeln oder in unserem Fall für forschendes Handeln (Wissenskonstruktion, Wissenschaft) zutrifft (siehe Grafik knols-3).

Aus dieser Perspektive verletzt meiner Meinung nach die Wissenskonstruktion innerhalb des Wikipedia-Konzepts das Konzept der Geltungsansprüche in zwei Aspekten:

  1. Die in der Wissenskonstruktion üblichen (gesellschaftlichen) Regeln der Auseinandersetzung werden durch die Norm den NPOV = neutralen Standpunkt ersetzt. Damit aber wird rationale Argumentation, immanente Widerspruchslosigkeit, intersubjektive Überprüfbarkeit durch Finden eines Kompromisses, Harmonisierung/Glättung  der Positionen und Durchsetzen der Mehrheitsmeinung ersetzt (= Verletzung des sozialen Bezugs des Geltungsanspruchs der Wissenskonstruktion).
  2. Die Authentizität der Personen hinter den vertretenen Meinungen wird durch die Anonymität der Autoren- bzw. Eigentümerschaft bei Wikipedia-Artikel unterlaufen. Damit wird eine zeitlich langfristige und kontunierliche Auseinandersetzung mit verantwortlichen Personen, die für bestimmte Meinungen stehen, nicht möglich (= Verletzung des subjektiven Bezugs des Geltungsanspruchs der Wissenskonstruktion).

[1] Der NPOV ist natürlich immer nur ein Ideal, ein Postulat, dass es (asymptotisch) zu erreichen gilt, das aber nie erreicht werden kann. Er muss bei jedem Auftauchen eines neuen Autors bzw. Autorin von Neuem hergestellt bzw. neu verhandelt werden.
[2] Ich setzte "richtig", "besser", "adäquater" unter Anführungszeichen um auf das Wahrheitsproblem hinzuweisen, das in der Philosophie verschiedene Lösungsansätze kennt und keinesfalls – wie der "gesunde" Menschenverstand wohl meinen mag – bloß als Übereinstimmung mit der Außenwelt zu verstehen ist.

Re:Googles Knol versus Wikipedia

Kommentar von jrobesam 03.08.2008 23:23

Danke für den interessanten Beitrag! Was die Schwierigkeiten mit Wikipedia betrifft und ihre Untermauerung durch die Habermas'schen Geltungsansprüche gehen mir einige Gedanken durch den Kopf, allerdings noch zu ungeordnet. Deshalb erlauben Sie mir einen kurzen Hinweis auf einen anderen Punkt:

Ich habe (noch) Schwierigkeiten, Beiträge in Wikipedia und Knol einfach als Sprechakte zu betrachten und nur nach den jeweiligen Regeln und Mechanismen der Wissenskonstruktion zu beurteilen. Sie sprechen von "enormen Vorteilen" des Knol-Konzepts für eine kooperative Wissensproduktion. Ist es nicht problematisch - sowohl für das Aushandeln der Standpunkte als auch die Rezeption der Inhalte -, dass "Knol" ein kommerzielles Projekt ist, sein Träger, "Google", ein privatwirtschaftlich orientiertes, börsennotiertes Unternehmen? Jede Knol wird mit Anzeigen verbunden, an deren Umsatz die Autoren partizipieren sollen. Jedes Knol ist mit der mächtigsten Suchmaschine verbunden, von deren Suchalgorithmus wir wenig wissen.

Ich zögere jedenfalls mit Blick auf diese Zusammenhänge, nur vom "Kreuz mit Wikipedia" zu sprechen.

Beste Grüße, JR

PS: Den bekannten Physiker ohne Schreibrechte habe ich nicht gefunden (ja, da war so etwas), nur Andrew McAfee, der sich mal an einem "enterprise 2.0"-Eintrag versucht hat. (falls noch nicht bekannt: http://courseware.hbs.edu/public/cases/wikipedia/)

Re:Googles Knol versus Wikipedia

Kommentar von jrobesam 04.08.2008 09:58

Großes sorry, ich habe gerade zu meinem Schrecken gemerkt, dass Sie in Ihren aktuellen Beiträgen ausführlich auf die von mir aufgeworfenen Fragen eingehen. Ich bin leider beim Link auf diesen Eintrag stehen geblieben.

Re:Googles Knol versus Wikipedia

Kommentar von michaelt1964am 10.10.2008 19:48

Ihren Beitrag fand ich außerordentlich ausführlich und interessant zu lesen. Hier mein Feedback zu den ersten drei Absätzen Ihres Artikels:

Das Kreuz mit dem neutralen Standpunkt: Die Diskussion in Wikipedia kann sehr zeitintensiv werden und gleicht manchmal einer Parteitagsarbeit. Positiv an Wikipedia ist der Zwang zur Darstellung der Meinung und Gegenmeinung bei unterschiedlichen Auffassungen zu einem Fachbegriff. Abweichend zu Ihnen glaube ich nicht, dass dies zu einer Verflachung der Fachartikel in Wikipedia führt, weil die Möglichkeit zu Unterartikeln besteht. Sehr anstrengend aber wird die Autorenschaft, wenn man in Wikipedia an ein Gegenüber gerät, das sich als spiritus rector des Fachbegriffes wähnt. Dann sind Änderungen des von ihm vertretenen Meinungsbildes sehr schwer, weil er ihm nicht genehme Ansichten durch fortgesetzte Rückänderungen fast unmöglich macht. Das ist eine Gefahr für Wikipedia als freie und dynamische Enzyklopädie. Für ausgewiesene Experten eines Fachgebietes oder herzblutartigen Anhängern eines Fachgebietes bietet knol einen sehr interessanten Ansatz, sein Wissen vergleichsweise geschützt vor edit-wars der Öffentlichkeit zu präsentieren.

Das Kreuz mit der Anonymität: Wikipedia bietet in der Tat die Möglichkeit zu anonymen Einträgen. Die war der Erfahrung nach in den ersten Jahren von Wikipedia überwiegend der Fall, hat sich aber in der letzten Zeit deutlich gewandelt. Viele Benutzer melden sich an und veröffentlichen unter ihrer Benutzerkennung Artikel. Das ist zwar nicht der Klarname, aber in der Regel bieten die in Wikipedia hinterlegten Profile genügend Informationen, damit der Verfasser greifbarer wird. Wird ein Artikel im Wesentlichen von einem Autor verfasst, besteht aufgrund der vielen Einträge der selben Benutzerkennung in der Versionshistorie keine Gefahr der Anonymität mehr.

Das Kreuz mit der offenen Kooperation: Hier besteht meines Erachtens auch die große Möglichkeit von knol. Wie Sie schreiben, bringt die repräsentative Masse nicht unbedingt eine Steigerung der Qualität. Für begabte Einzelexperten ist knol deshalb auch eine erhebliche Quelle, auf sich aufmerksam zu machen.

Insgesamt könnte Google knol bei Erfolg wesentlich die Geschäftsaussichten der wissenschaftlichen Fachverlage schwer beeinträchtigen. Sie agieren auch heute noch wie in den goldenen Zeiten vor dem Internet in einer sehr ertragreichen Nische als Wissensmonopolist, die vom Internet bisher noch nicht bestrichen wurde. Reüssiert Google, dann finden Wissenschaftler hier eine schnelle und von der Nutzbarkeit her sehr intuitive Plattform, ihre Ergebnisse außerhalb der etablierten Prozesse zu veröffentlichen.

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