Lebendige Strukturen in Raum und Zeit – I

Die nachfolgende Skizze ist ein (winziges) Fragment im Rahmen einer komplexen Diskussion, die sich mit dem Musteransatz von Christopher Alexander beschäftigt. Sie versucht die im 5. Kapitel (pp. 143-242) vom 1. Band von The Nature of Order (TNO) angeführten 15 fundamentalen Lebenseigenschaften auf die Pädagogik umzulegen. Dementsprechend werden die Ausführungen in den Kapiteln 1-4 als bekannt vorausgesetzt und hier nur für Newcomer bzw. zur Erinnerung als Prämissen zusammengefasst. [Selbstverständlich ist das meine eigene Interpretation bzw. (Re-)konstruktion der Alexanderschen Theorie und muss selbst kritisch hinterfragt werden.]:


Fragmentarische Betrachtungen zum Ganzheitskonzept bei Christopher Alexander

Die nachfolgende Skizze ist ein (winziges) Fragment im Rahmen einer komplexen Diskussion, die sich mit dem Musteransatz von Christopher Alexander beschäftigt. Sie versucht die im 5. Kapitel (pp. 143-242) vom 1. Band von The Nature of Order (TNO) angeführten 15 fundamentalen Lebenseigenschaften auf die Pädagogik umzulegen. Dementsprechend werden die Ausführungen in den Kapiteln 1-4 als bekannt vorausgesetzt und hier nur für Newcomer bzw. zur Erinnerung als Prämissen zusammengefasst. [Selbstverständlich ist das meine eigene Interpretation bzw. (Re-)konstruktion der Alexanderschen Theorie und muss selbst kritisch hinterfragt werden.]:

5 Prämissen

  1. Christopher Alexander versteht unter dem Begriff des Lebens weit mehr als traditionell in der Biologie üblich ist. Für ihn ist "Leben" eine emergente Eigenschaften von Strukturen, der Natur der Ordnung. Leben entspringt aus der Ganzheitlichkeit, der strukturellen Kohärenz1 und ist demnach eine emergente Eigenschaft der Materie.
  2. "Leben" ist keine ja-nein Eigenschaft, sondern entsprechend der Grad der Ganzheitlicherkeit, dem Grad der Harmonie, dem Grad der strukturellen Kohärenz eine graduelle Eigenschaft der Materie.
  3. "Leben" kann durch Introspektion als Gefühl wahrgenommen werden. Dieser "Lebenssinn" kann durch Übung geschärft werden. Die Bestimmung des Grades an Leben lässt sich nicht auf individuelle Meinungen und/oder Werthaltungen reduzieren, sondern kann empirisch (experimentell) bestätigt werden. Besonders hilfreich ist dabei der paarweise Vergleich von Objekten und/oder Situationen.
  4. Wie kann Ganzheitlichkeit analysiert werden? Ein Zerlegen in einzelne Elemente zerstört die Konfiguration, die interne Kohärenz, also das was die Ganzheitlichkeit ausmacht. Alexander verwendet daher einen rekursiven Zentrumsbegriff: Zentren werden von der Ganzheitlichkeit induziert und verweisen auf ihre Beziehungen zu anderen Teilen, die wiederum selbst als Zentren wirken. Ein Zentrum besteht selbst wieder aus Zentren.
  5. Ganzheitlichkeit ist eine feldartige Struktur und definiert sich als ein Muster von Zentren im Raum. Selbst wenn es sich um soziale (Einfluss-/Macht-)zentren, Handlungs- Bewegungs- und/oder Kulturzentren handelt, gibt es letztlich immer eine räumliche Dimension, ist die Dynamik eine Konfiguration von Kräften im Raum, spielt sich im Raum ab.

Methode statt Inhalt

Nach dieser Zusammenfassung in der Form von Prämissen beginne ich nun mit der eigentlichen Diskussion:

Im letzten (5.) Punkt ist die universelle Bedeutung von Raum bei Alexander deutlich geworden. Ausgehend von seinen professionellen Interessen als Architekt hat er über 20 Jahre versucht heraus zu finden, warum sich bei bestimmten Konstellationen das Gefühl der Lebendigkeit bei Bauwerken und anderen Artefakten einstellt. Er ist dabei auf 15 Eigenschaften bzw. Strukturmerkmale gestoßen, die seiner Meinung nach für Lebendigkeit verantwortlich sind.

Aus meiner Sicht krankt die ganze Pattern-Diskussion auf eine falsche Übertragung seiner Ideen auf andere Sachgebiete. Statt sich mit seinen inhaltlichen Annahmen auseinanderzusetzen wurde bloß seine Methode übernommen. In seinen weitaus bekannteren früheren Arbeiten wie The Timeless Way of Building" (TWB) und "A Pattern Language: Towns - Buildings - Construktion" (APL) hat Alexander nämlich diese  Eigenschaften damals noch nicht einzeln benennen können, und daher immer nur von QWAN (the Quality Without A Name) gesprochen. Alexander konnte jedoch bereits räumliche Konfigurationen zusammenstellen, die einen hohen Grad von QWAN – also das, was er später "Leben" nannte – enthielten. Diese Konfigurationen bezeichnete er als "Muster" (Pattern) und definierte sie als eine Lösungsschablone, die in einem bestimmten Anwendungszusammenhang bzw. Kontext nutzbringend eingesetzt werden kann.

Each pattern describes a problem which occurs over and over again in our environment, and then describes the core of the soluation to that problem, in such a way that you can use this solution a million times over, without ever doing the same way twice. (APL, x)

Beispiele

In der Darstellung der Muster bediente sich Alexander einer Formalisierung, auf die ich im Detail hier nicht näher eingehe. Einige rudimentär  und vereinfacht dargestellte Beispiele sollen die Idee verdeutlichen:

Beispiel aus der Architektur:

  • Mustername: Stadt-Land Finger
  • Problem: Große Städte ruinieren die Umwelt, aber eine gewisse Größe ist auch wichtig bringt Vorteile.
  • Lösung: Mische Streifen von Ackerland mit Stadtzone bis ins Stadtzentrum hinein.

Beispiel aus dem Webdesign:

  • Mustername: Brotkrumen streuen (Breadcrumbs)
  • Problem: Auf einer komplexen Website können Benutzer/-innen sehr leicht die Orientierung verlieren
  • Lösung: Zeige den hierarchischen Pfad von der Startseite bis zur aktuellen Seite an und führe jeden Schritt als Hyperlink aus.

Beispiel aus der Pädagogik:

  • Mustername: Fülle die Leerstellen aus
  • Problem: Gerade Anfänger/-innen brauchen bedeutungsvolle Beispiele um ihr Interesse zu wecken und um ein holistisches Verständnis von der Sache zu gewinnen. Andererseits fehlt ihnen jedoch gerade zu Beginn das Know-How für diese komplexen Aufgaben.
  • Lösung: Gib den Studierenden komplexe authentische Beispiele bei denen jedoch kleinere einfache Teile fehlen, die als Übung auszufüllen sind.

Diskussion um die Struktur der Beschreibung

So praktisch die obigen Anwendungsbeispiele sein mögen, sie zeigen keinen inhaltlichen sondern nur formale Ähnlichkeiten (Name-Problem-Lösung). Die Diskussion in der Pattern-Community kreist häufig um die Struktur der Beschreibung:

  • Soll noch ein eigener Unterpunkt aufgenommen werden, der die Wechselwirkung der Kräfte darstellt und analysiert?
  • Soll nicht auch eine Rubrik "Konsequenzen" aufgenommen werden, wo die Ergebnisse samt ihren Trade-Offs und Kompromissen diskutiert werden?
  • Konsensuell und besonders wichtig ist es vor allem, dass Anschlussmuster anzuführen sind, denn erst dann werden aus einzelnen Mustern eine Mustersprache (Pattern Language).
  • Auch der hierarchische Zusammenhang der Muster soll aufgezeigt werden, indem gesagt wird, aus welchen Muster ein Muster besteht, bzw. in welchen Mustern es selbst als Teil vorkommt.
  • Was ist fett, was kursiv und was normal zu schreiben? Wie sollen die einzelnen Teile abgetrennt werden (mit Strich oder Sternchen)?
  • Viele meinen, dass es wichtig, so wie Alexander es macht, die Muster mit Sterne zu bewerten:
  • Kein Stern: interessant, aber noch nicht validiert, muss möglicherweise noch beträchtlich verändert werden
  • Ein Stern: scheint wichtig zu sein, und dürfte nur mehr wenig Modifikation erfahren
  • Zwei Sterne: ein zentrales Muster, das sich bereits häufig bewährt hat

Raum und Zeit

Aus meiner Sicht wäre es – statt der manchmal haarspalterischen Diskussion um Beschreibungsformalia – wichtiger, wenn überlegt wird, wie die 15 räumlich definierten Lebenseigenschaften, die Alexander für gute Musterlösungen verantwortlich macht, umgesetzt werden können. Dabei stellt sich dann natürlich auch die Frage, ob diese Eigenschaften überhaupt auf andere Bereiche - wie z.B. der Pädagogik – übertragen werden können.

Aus meiner Sicht handelt es sich bei den nachfolgenden Eigenschaften um Strukturmerkmale der Materie (im philosophischen Sinne hier gebraucht). Um Strukturmerkmale, die so allgemein sind, dass sie nicht nur für Raum sondern auch für Zeit gelten. Das ist auch nicht weiter verwunderlich, weil wir spätestens nach Einstein wissen, dass wir in einem Raum-Zeitkontinuum leben.

Ich möchte, daher die These vertreten, dass die nachfolgend dargestellten 15 räumlichen Lebenseigenschaften für die Anwendung in der Didaktik zeitlich zu interpretieren sind.

Bei dem Einsatz von Unterrichtsmethoden handelt es sich nicht bloß um die Anwendung bestimmter Techniken, sondern auch um "…einen mehr oder weniger kunstvollen methodischen Gang des Unterrichts, der sich aus der gestellten Lernaufgabe, aus den Lernvoraussetzungen der Schüler und den Rahmenbedingungen der Schule ergibt: viele kleine Schritte, die zusammen ein Ganzes, den Unterricht, ergeben." (Hilbert Meyer: Unterrichtsmethoden, Bd. I, S.38).

Diese Zitat zeigt nicht nur, dass der Unterrichtsprozess eine Zeitdimension hat, sondern auch den Zusammenhang zur Alexanderschen Ganzheitlichkeit. Ich habe den Begriff Didaktischen Szenario gebraucht und auf die dabei wesentliche sozial-räumliche und zeitliche Konfiguration hingewiesen.

Damit möchte ich den ersten Teil dieses Fragments (es ist ja bereits 4 Uhr früh geworden!) abschließen und das nächste Mal in einem Schnellverfahren die 15 räumlich definierten Lebenseigenschaften von Alexander beschreiben und zeitlich uminterpretiert auf die Didaktik anwenden.

Noch ein kleiner Hinweis: Die Erwähnung der Zahl 15 ist nicht entscheidend, 15 stellt nur eine Größenordnung dar.

Throughout my efforts to define these properties, it was always clear that there were not five, and not hundred, but about fifteen of these properties. (TNO:242)

Das trifft sich ganz gut mit meinen 12 didaktischen Dimensionen. Doch das ist eine andere Geschichte - darüber ein anderes Mal…


1Hallo Frank: Da ist sie wieder, Deine Kohärenz!

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