GLL-10: Zweiter Schritt – Das Lokale neu verteilen

Im vorigen Abschnitt wurde Globales lokalisiert, d.h. entmystifiziert, mit "Fleisch" unterlegt: Es wurde nach dem Ort gefragt, wo das Finanzkapital in die Krise schlittert bzw. sie verursacht (z.B. in den Büros der Wallstreet), der Irak-Krieg ausgelöst bzw. entfacht wurde (z.B. in den Kommandozentralen der US Army). Statt das Globale, das Strukturelle, das Totale amorph und abstrakt voraus zusetzen, ging es einerseits darum die vielen lokalen Stätten aufzusuchen an denen Struktur- und Kontexteffekte transportiert werden und andererseits deren zirkulierende Transportmittel (z.B. Dokumente der Bonitätseinschätzungen, Urkunden der Befehlsübermittlungen) nach zu verfolgen.


Im vorigen Abschnitt wurde Globales lokalisiert, d.h. entmystifiziert, mit "Fleisch" unterlegt: Es wurde nach dem Ort gefragt, wo das Finanzkapital in die Krise schlittert bzw. sie verursacht (z.B. in den Büros der Wallstreet), der Irak-Krieg ausgelöst bzw. entfacht wurde (z.B. in den Kommandozentralen der US Army). Statt das Globale, das Strukturelle, das Totale amorph und abstrakt voraus zusetzen, ging es einerseits darum die vielen lokalen Stätten aufzusuchen an denen Struktur- und Kontexteffekte transportiert werden und andererseits deren zirkulierende Transportmittel (z.B. Dokumente der Bonitätseinschätzungen, Urkunden der Befehlsübermittlungen) nach zu verfolgen.

Im zweiten Schritt jetzt geht es darum, auch nicht das Lokale einfach so hinzunehmen, sondern – wie beim Globalen – hinein zu zoomen und zu entfalten. Nachdem der Kontext lokalisiert wurde (d.h. die geeigneten Orte für die Untersuchung gefunden und betreten wurden), interessiert nun nicht mehr das Wo sondern das Wie. Wie wird das Lokale hervorgebracht? Es geht dabei um die Rückverfolgbarkeit (Traceability) der lokalen Interaktionen.

Rückverfolgbarkeit (Traceability) lokaler Interaktionen

Der Knackpunkt für das Verständnis dieses zweiten Schritts besteht darin, dass in jeder lokalen Interaktion nicht nur der jeweilige Ort präsent ist, sondern auch andere Orte, nicht nur die (Jetzt-)Zeit der lokalen Interaktion wirkt (Gegenwart), sondern auch andere Zeiten (Vergangenheit und Zukunft) das Geschehen beeinflussen. Das "didaktische" Beispiel, das Latour anführt, ist eine Vorlesung an einer Universität, die in einem Hörsaal stattfindet, der zu einem früheren Zeitpunkt an einem anderen Ort geplant wurde, dessen Ausstattung aus Material von anderen Orten aus anderen Zeiten "bevölkert" ist und wo die gerade stattfindende lokale Interaktion als Vorbereitung für die in der Zukunft liegende Abschlussprüfung dient.

Sowohl das architektonische Grundgerüst als auch die Ausstattung des Hörsaals ist nicht einfach nur "da", sondern übernimmt bestimmte Funktionen im Gesamtarrangement, die jedoch nicht eindeutig sind, modifiziert bzw. "übersetzt" werden können. Tischbänke können nicht nur verstellt sondern auch anderes benutzt werden (z.B. als Raumtrenner).

Artikulatoren und Lokalisatoren

 

… was mit dem Ausdruck "lokale Interaktion" bezeichnet wurde, ist die Versammlung all der anderen lokalen Interaktionen, die woanders in Zeit und Raum verteilt und dazu gebracht worden sind, durch das Relais verschiedener nicht-menschlicher Akteure auf den Schauplatz einzuwirken. Diese transpor/tierte Präsenz von Orten an andere Orte will ich als Artikulatoren oder Lokalisatoren bezeichnen. (334f.)

Artikulatoren oder Lokalisatoren antizipieren einen Aspekt des Skripts für eine Szene. Es ist nicht alles improvisiert, sondern das meiste für die Ausstattung einer (allgemeinen, bzw. generischen) Szene ist bereits an Ort und Stelle vorhanden.

Artikulatoren bzw. Lokalisatoren sind nicht nur Bestandteile einer Szene, sondern sie "rahmen" sie auch, geben ihr einen Kontext, sind strukturierende Schablonen, die gewisse Aspekte einer Handlung anregen (aber nicht determinieren), begünstigen (aber nicht verursachen).

Damit werden aber die "Transportmittel" in den Vordergrund gerückt, d.h. die Bewegungen, Zirkulationen, Verlagerungen bzw. Überlagerungen zwischen Orten und nicht so sehr die Orte selbst.

"Orte eignen sich nicht gut als Ausgangspunkt, weil jeder von ihnen durch andere Orte gerahmt und lokalisiert wird … Die Zirkulation kommt zuerst, die Landschaft, in der Agenten und Formatierungsschablonen aller Art zirkulieren, ist sekundär. " (338)

Übergreifende Aspekte von face-to-face Interaktionen

Es sind 5 Aspekte, die zeigen, warum lokale Interaktionen  gerade nicht "lokal", d.h. begrenzt sind.

  1. Ort: Interaktion ist nicht isotopisch, weil alles was an irgendeinem Ort agiert, von Materialien und Akteuren "gerahmt" wird, die von anderen Orten kommen (siehe das obige Beispiel des Hörsaals). Es gibt also in diesem Sinne keine Lokalität der lokalen Interaktion.
  2. Zeit: Interaktion ist nicht synchron, weil z.B. Tisch, Kleidung, Schallwellen aus unterschiedlichen Zeiten stammen. Somit gibt es keine synchrone Interaktion, wo alle Bestandteile dasselbe Alter und Tempo haben.
  3. Gesamtschau/Totalität: Interaktion ist nicht synoptisch, weil jeweils andere Entitäten (Akteure) sichtbar sind, im Mittelpunkt stehen. Zwar können immer jeweils andere Bestandteile einer Szene hervorgehoben (sichtbar gemacht) werden, d.h.nicht bloß die Dozentin sondern auch Tisch, Blatt Papier, Tafel etc. hervor gehoben werden, doch geschieht dies (a) immer unvollständig und (b) gegen einen unendlichen und unspezifizierten Hintergrund (vgl. dazu genauer auch meine Habilitationsschrift Der Hintergrund des Wissens).
  4. Gleichartigkeit: Interaktion ist nicht homogen, weil die Stationen, über die Handeln verläuft, nicht die ganze Zeit hindurch dieselbe materielle Qualität haben. Es ist immer eine ganze Menge von nicht-menschlichen, nicht-subjektiven, nicht-lokalen Akteure die für eine Handlung zusammenströmen bzw. versammelt werden müssen.
  5. Druck: Interaktion ist nicht isobar, weil der Druck der von Mittlern und Zwischengliedern ausgeübt wird um berücksichtigt zu werden, jeweils ganz unterschiedlich ist. Einige Akteure sind neuartig und auffallend, andere sind Routine oder als Gewohnheiten in den Körper eingesickert und scheinbar unsichtbar.

Zusammenfassend lässt sich daher sagen, dass der Vorstellung einer lokalen Interaktion genauso wenig korrekt ist, wie die einer globalen Struktur.

Plug-ins

Wenn man das von außen Kommende als Mittler begreift, die eine Gelegenheit für den nächsten Agenten bieten, sich als Mittler zu verhalten, ändert sich vielleicht ein für allemal der ganze Schauplatz von Innen- und Außenwelt. Noch immer hält die Puppenspielerin viele Fäden in ihren Händen, doch jeder ihrer Finger wartet nur darauf, sich auf eine von der Marionette angezeigt Weise zu bewegen. Je mehr Fäden die Marionetten haben dürfen, dest artikulierter werden sie. (373)

Latour verwendet das Metapher von Plug-Ins (Add-Ons), also Zusätzen, die bei Bedarf herunter geladen werden können und damit die vorhandene Software-Ausstattung ergänzen. Der Widerspruch zwischen generischen Akteuren und individualisierten HandlungsteilnehmerInnen, der sich in der "Kluft der Ausführung" darstellt,  lässt sich durch den jeweiligen Rückgriff auf die entsprechenden Ressourcen ignorieren (aber nicht: aufheben, überwinden, auflösen!).

Für Latour ist es wichtig, dass nicht zwischen den beiden Extremen gependelt wird, also zwischen lokal/global, Akteur/System oszilliert wird, sondern dass die jeweilige Ausrüstung schichtenweise sukzessive verbessert bzw. versammelt wird. Wie Plug-ins können Kompetezten abonniert, herunter geladen und lokal installiert werden.

Diese Kompetenzen, die von außen angereichert werden, ersetzen jetzt aber nicht den Widerspruch lokal/global bzw. Akteur/System durch Außen/Innen bzw. Extern/Intern, vielmehr ist "Verinnerlichung" als graduelle Ausbreitung von äußeren Angeboten zu verstehen.

Hilfreich für diese Sichtweise ist die von Latour früher schon einmal erwähnte Metapher der Marionetten:

Natürlich sind Marionetten gebunden! Doch die Konsequenz besteht gewiß nicht darin, daß man zu ihrer Emanzipation alle Fäden abschneidet. Der einzige Weg für den Puppenspieler, die Puppen zu befreien, besteht darin, ein guter Puppenspieler zu sein. (372)

Unter diese Sichtweise kann der Ausdruck "Akteur-Netzwerk" auch fäschlicherweise als Lösung des Akteur/Systems-Dilemma aufgefasst werden. Statt aber einen neuen Ausdruck zu prägen, will Latour mit dieser möglichen Verwechslung leben, weil sich die Begrifflichkeit inzwischen durchgesetzt hat.

Statt also eine Lösung der Gegensätze Indviduum/Gesellschaft, Handlung/System, Innen/Außen etc anzubieten, schlägt Latour vor diese Pole zu ignorieren und durch ständige Lokalisierung des Globalen und Verteilung des Lokalen ihre Gegensätzlich zu minimieren. Alles muss flach gehalten werden:

  • Auf der einen Seite wird das Globale lokalisiert und durch die sie "fütternden" Transportwege sternförmig "platt gedrückt".
  • Auf der anderen Seite werden die menschlichen und nicht-menschlichen Akteure in der lokalen Interaktion durch Hinzuziehung von Artikulatoren und Lokalisatoren (= eine besondere Art von Mittlern) sternförmig ausgedehnt.

Statt das Augenmerk auf die Konzepte von "Kontext" oder "Interaktion" zu legen muss der Fokus auf die Konnektoren, Verknüpfungen und Verbindungen gelegt werden.

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert