Diese 10. Forschungswerkstatt (FoWe) hat sich in zweierlei Hinsicht von bisherigen Forschungswerkstätten unterschieden. Und zwar handelt es sich bei beiden Punkten um positive Aspekte. Besonders Kennzeichen für mich war ua. die hochstehende interaktive (Plenums-) Diskussion aller TeilnehmerInnen. Das war in dieser Dichte bisher noch nicht bei vielen Werkstätten der Fall. Und das sage ich nicht nur als Veranstalter, sondern aus persönlicher Überzeugung!
1. Blended Learning Integration:
Es gab für diese 10. FoWe eine von Frank Vohle angeleitete E-Learning-Vor- und Nachbereitung. Das war aber nicht extra aufgesetzt, quasi ein Zusatz (Add-on) sondern integraler Bestandteil der Auseinandersetzung. Für mich selbst war es eine ganz wichtige Erfahrung, selbst mit der Video-Kommentierung zu experimentieren.
Obwohl ich über meine Freundschaft mit Frank schon von seiner Firma und seinem Konzept zu "Social Video Learning" Bescheid wusste, war es für mich trotzdem ein Aha-Ereignis die Möglichkeiten einer punktgenauen Kommentierung (mit Diskussionsmöglichkeit) in der Vorbereitungswoche praktisch zu erleben. Mir wurde erst damit klar welche didaktische Mächtigkeit mit dieser technischen Möglichkeit des Video-Player verbunden ist. Aber erst in der Nachbereitung habe ich das gesamte Konzept den Online Campus EduBreak verstanden. Der Player macht erst richtig Sinn, wenn er mit den anderen Werkzeugen (Aufgabenstellungen, Blogbeiträge etc.) verknüpft wird. Selbst die direkte Annotation im Video selbst, wird erst durch das damit automatisch angelegte Forum auf Kursseite zu einer echten diskursiven E-Learning Erfahrung.
2. Interdependenz zwischen Didaktik und Bildungstechnologie
Bei dieser 10. FoWe war aus meiner Sicht ganz besonders das ständige Oszillieren zwischen didaktischen Fragestellung und (bildungs-)technische Möglichkeiten besonders gelungen. Das lag einerseits am gewählten Fokus (Diskussion eines einzigen speziellen und konkreten Werkzeug-Ansatzes) aber andererseits sicherlich auch an Frank selbst, der eben selbst diese beiden Perspektiven integriert und gut vermitteln konnte.
Auch (oder: Gerade weil?) Frank kein Programmierer ist, konnte er uns TeilnehmerInnen, die aus ganz verschiedenen Ecken mit unterschiedlichen beruflichen Hintergründen kamen, zur lebhaften Diskussion anregen. Wir haben deshalb auch die ursprüngliche Planung – drei Arbeitsgruppen zu bereits geplanten Themen einzurichten– umgeworfen und alles im "Plenum" (15 Leute) diskutiert. Da haben sich tatsächlich auch alle angeregt beteiligt, was ja auch nicht selbstverständlich ist.
Dass wir gegenüber den ursprünglichen Plan v.a. am Samstag dann eine ganz anderes Programm verfolgt haben, zeigt die Problematik einer detaillierten Ablaufplanung für kollaboratives selbstgesteuertes Lernen. Andererseits – so habe ich die Erfahrung gemacht – braucht es eine (provisorische) Agenda, weil sonst durch die Leere Angst und Unsicherheit entsteht. Aber vielleicht sollte ich in Zukunft einen Hinweis darauf geben? Etwa so: "Provisorische Agenda – Wird nach den Wünschen der TeilnehmerInnen vor Ort adaptiert" oder ähnliches.
3. Kommentierung als "Hineinzoomen"
Ich bin immer noch dabei die auf der Werkstatt gemachten Erfahrungen zu verarbeiten. Was mich ganz besonders fasziniert, ist die Möglichkeit in einem komplexen – über Video aufgenommen Settings – punktgenau (Der Player zeigt sogar tausenstel Sekunden an!) – anzuhalten und zu diskutieren. Mir kommt bei dieser Idee des "Social Video Learning" Vygotsky (Thought and Language) in den Sinn:
The relation of thought to word is not a thing but a process, a continual movement back and forth from thought to word and from word to thought. In that process the relation of thought to word undergoes changes that themselves may be regarded as development in the functional sense. Siehe Newlearningonline.
Mit den Markierungen auf der Timeline des Videos wird deiktisch (hinweisend) gearbeitet. Die Punkte – die auch als Ampelfarben grün-gelb-rot gekennzeichnet werden können – sind "Zeigwörter": "Hier schau mal – da gibt es etwas Interessantes". Damit wird der komplexe Fluss der zusammenhängende Ereignisse gestoppt und einer Analyse zugänglich gemacht.
Frank – der auch ein T-Shirt mit der Aufschrift trug "We stop Videos" – hast das Konzept auch auf reale soziale Interaktionen übertragen. Es wird vereinbart, dass mit einer bestimmten Handbewegung/Ausruf alle TeilnehmerInnen ihre Körperpositionen in der augenblicklichen Haltung "einfrieren". Diejenige Person, die das Stoppen hervorgerufen hat (oder auch andere TeilnehmerInnen) können nun ohne Zeitdruck die Situation sprachlich analysieren. Mich erinnerte diese Idee an phänomenologisch ausgerichteten Soziologen Harold Garfinkel 1, der mit Experimenten, die Standardsituationen zusammenbrechen lassen, die Aufmerksamkeit gerade auf diese häufig nicht bewusst wahrgenommenen "normalen" Situationsaspekte hinlenkt. Z.b. hat er seine Studierenden aufgefordert, wenn sie bei ihren Eltern sind, sich so zu benehmen, wie wenn sie fremder Gast in einem Hotel sind, z.B. zu allen "normalen" Dingen (wie ein Glas Milch sich besorgen) fragen und/oder eine Geldleistung/Bezahlung anbieten.Ein anderes Beispiel ist sich bei Gesprächen die "normale" Körperdistanz nicht einzuhalten, also jemanden auf die "Pelle" rücken oder aber nach hinten ausweichen. Eine Teilnehmerin hat dann in diesem Zusammenhang gleich auch auf die Arbeiten von Erving Goffman hingewiesen 2
4. Kohärenz und Mustersprache (didaktische Entwurfsmuster)
Ein wichtiger vermuteter Zusammenhang der uns – Frank und mich – sehr interessiert, ist die (didaktische) Gestaltung einer stimmigen (Lern-)Situation. Frank nähert sich dieser Fragestellung mit dem Begriff der "Kohärenz" und verweist dabei auch ein für ihn sehr wichtiges Buch 3, das ich mir schon bestellt habe, aber erst noch zur Gemüte führen muss.
Mein Ansatz ist der Mustersprachen-Ansatz, wo Christopher Alexander – vor allem in seinem 4-händigem Werk 4 – versucht 15 Eigenschaften für eine qualitätsvolle holistische Situation zu (er)fassen. Der Vorteil dabei: Der Begriff der "Kohärenz" wird in verschiedenen Aspekten unterteilt und objektivierbar gemacht. Eine schöne grafische Zusammenstellung über diese 15 Eigenschaften gibt Helmut Leitner mit den inzwischen schon sehr bekannt gewordenen "Leitner Diagrams".
Mir ist vorerst mal egal. welcher Ansatz wirkungsvoller ist. Wichtig für mich ist es, dass wir einerseits beide dieselbe Zielstellung verfolgen und andererseits aber "Social Video Learning" ein wertvolles Werkzeug bei der Analyse und Gestaltung solch kohärenter Situationen darstellen kann. So plane ich beispielsweise diesbezüglich ein Grundlagenforschungsprojekt mit LehrerInnen-Weiterbildungsbezog einzureichen. Die Idee dabei ist es, dass reale Unterrichtssituationen mit "Social Video Learning" analysiert werden und ein Instrumentarium entwickelt wird, um "gute", d.h. kohärente oder – wie Alexander sagen würde – "lebendige" Unterrichtssituationen von nicht-stimmigen Kontexten/Interaktionen unterschieden werden können.
Fußnoten
- Garfinkel, Harold. 1984. Studies in Ethnomethodology. Auflage: 1. Auflage. Cambridge, UK: John Wiley & Sons.
- Goffman, Erving. 1980. Rahmen-Analyse: Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen. Übersetzt von Hermann Vetter. Auflage: 8. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.
- Letiche, Hugo, Michael Lissack, und Ron Schultz. 2011. Coherence in the Midst of Complexity: Advances in Social Complexity Theory. New York, NY: Palgrave.
- Alexander, Christopher. 2006. The Nature of Order Set: v. 1, v. 2, v. 3 & v. Center for Environmental Structure.
5 Antworten auf „10. FoWe: Social Video Learning“
Lieber Peter, Dir vielen Dank für die Organisation der 10. Forschungswerkstatt und hier vor allem für die Chance unser Konzept – es ist eben nicht nur eine Software – vorstellen und diskutieren zu dürfen. Bereichernd waren für mich die vielfältigen Perspektiven von Kunstpädagogik bis Veterinärmedizin, toll, einen Dank auch an alle TeilnehmerInnen!
Hallo Frank,
Ich entnehme Deinem Blogbeitrag ein Plädoyer für häufiges & informelles videographieren. Ein wichtiger Gedanke, der aber eine andere Haltung zur sozialen Realität nötig macht.
Trotzdem: Wir sind es gewohnt, dass wir fotografiert werden und zücken auch selbst relativ schnell und problemlos unser Handy für ein Foto. Warum also nicht ein Video? Ist ja nur bloß ein anderer Button am selben Interface!
[…] Für weitere Anregungen bitte zum Original wechseln … Peter Baumgartner, Gedankensplitter, 16. Mai 2014 […]
Inzwischen gibt es einen kurzen You-Tube Einführungsvideo, mit Innenansichten von edubreak®CAMPUS. Das ist wahrscheinlich wichtig für alle, die sich in Ergänzung dieses Blogbeitrags auch eine Vorstellung über die praktische Realisierung aufbauen wollen.
Einen kurzen erläuternden Text zur Einbindung außerhalb Sportsettings findet sich in einem Kommentar von Jochen Robes Weiterbildungsblog
[…] der Forschungswerkstatt von Peter Baumgarten haben wir über dieses Thema gesprochen, über den Umgang mit Videos, über […]