Bildung für eine joblose Gesellschaft

Der Artikel wirft die Frage auf, welche Veränderungen im Bildungsbereich durch die zu aktuelle technologische Entwicklung zu erwarten sind. Im Rahmen einer Videoaufzeichnung eines Vortrags an der Hamburger Universität vertrete ich die Auffassung, dass die kommende Rationalisierungswelle nicht mehr durch höhere (Aus-)Bildung ausreichend entgegen gewirkt werden kann und dass hohe Raten von Arbeitslosigkeit (ca. 50%) demnächst zu erwarten sind. Welche Bildung brauchen wir für eine Gesellschaft, wo es nicht mehr in erster Linie mehr darum geht, sich für einen Arbeitsplatz zu qualifizieren?

In diesem Beitrag versuperintelligencetrete ich die Ansicht, dass die Singularitätshypothese auch für den Bildungsbereich gültig ist. Der Begriff Singularität stammt eigentlich aus der Astronomie, wo eine Situation gemeint wird, die nicht mehr kalkulierbar und abschätzbar ist. So wird z.B. in der klassischen astronomischen Theorie davon ausgegangen, dass in sogenannten schwarzen Löchern  unkalkulierbare Bedingungen herrschen, weil die Gravitation so stark ist, dass keine Kommunikation (weder über Masse noch über elektromagnetische Strahlung, wie z.B. Licht) möglich ist. Wir können also nicht wissen, was in einem schwarzen Loch wirklich passiert. Alleine die Idee, dass beliebige Massen zu einem Null-Volumen zsuammengepresst werden, ist kaum vorzustellen.

Superintelligente Maschinen?

Der Singularitätsbegriff wird nun aber auch für die kommende technische Zukunft verwendet. Im Allgemeinen wird damit die Entwicklung superintelligenter Maschinen gemeint, die für uns Menschen unvorstellbare kognitive Kompetenzen  haben werden. Wenn diese Annahme richtig ist, dann wird die weitere technologische – aber auch gesellschaftliche – Entwicklung nicht mehr abschätzbar und damit auch nicht mehr steuerbar. Das nachfolgende Zitat soll helfen diese Position zu verdeutlichen:

The Singularity is the hypothetical future creation of superintelligent machines. Superintelligence is defined as a technologically-created cognitive capacity far beyond that possible for humans. Should the Singularity occur, technology will advance beyond our ability to foresee or control its outcomes and the world will be transformed beyond recognition by the application of superintelligence to humans and/or human problems, including poverty, disease and mortality. (http://whatis.techtarget.com/definition/Singularity-the)

surviving-aiNamhafte Autoren wie z.B. Ray Kurzweil (The Singularity Is Near: When Humans Transcend Biology), Nick Bostrom (Superintelligence: Paths, Dangers, Strategies) und Calum Chace (The Economic Singularity: Artificial intelligence and the death of capitalism) vertreten diese Hypothese. (Die rein maskuline Verwendung von "Autor" ist hier kein Gender-Fehler, sondern ich kenne tatsächlich keine Publikation von Frauen, die diese Position vertreten.) Eine Liste einschlägigier Literatur zum Thema "Singularity" findet sich auf  Goodreads.com.

Natürlich ist diese starke Form der Hypothese umstritten. Sie hat aber immerhin bereits soviel Aufmerksamkeit, Geld und Reputation bekommen, dass eigene Forschungsinstitute sich damit beschäftigen. So hat sich Nick Bostrum, Professor an der University of Oxford am renommierten Future of Humanity Institute auf die Forschungsfrage spezialisiert, wie diese künftige Superintelligenz so programmiert werden kann, dass sie keine Gefahr für die Menschheit darstellt. Seine Schlussfolgerungen sind schockierend, weil solch eine Superintelligenz – wie der Name schon sagt – so intelligent ist, dass sie alle von Menschen vorgesehene Sicherheitsmaßnahmen austricksen wird können. Sie braucht für ihre weitere Entwicklung im Weltall keine Menschen mehr, sondern kann für sich selbst sorgen. Bostrum stellt überzeugend dar, dass selbst ein Verbot von Forschung und Entwicklung zu dieser Frage – was immer man/frau davon halten will – nicht zielführend ist, weil es immer Gruppen/Staaten geben wird, die sich nicht daran halten werden.

Gilt die Singularitätshypothese auch für den Bildungsbereich?

Aber selbst wenn gegen diese starke Version der Singularitätshypothese in Form einer technologisch entwickelten künstlichen Superintellgenz Skepsis angebracht ist, heißt das nicht, dass eine andere gesellschafte Variante der Singularität zu erwarten ist: Durch eine Reihe von technologischen Entwicklungen könnte bereits in einigen Jahren (nicht Jahrhunderten oder Jahrzehnten) die Arbeitslosigkeit soweit ansteigen, dass sie sich zu einer sozialen und ökonomischen aber auch bildungspolitischen Singularität (d.h. Unwägbarkeit) entwickelt. 

In ihrer Aufsehen erregende Untersuchung vertreten Frey und Osborne (Frey, Carl Benedikt, und Michael A. Osborne. „The future of employment: how susceptible are jobs to computerisation“. Retrieved September 7 (2013): 2013.) die Aufassung, dass bis zu 47% der US-amerikanischen Jobs demnächst wegfallen könnten. Es ist ein breites Spektrum an Kompetenzen, das demnächst durch Maschinen übernommen werden könnte:

  • Lebensmittelindustrie: Hier werden beispielsweise Roboter die Zusammenstellung und das Service von Fast Food übernehmen. Erste Installationen gibt es bereits.
  • Transportwesen: Das selbstfahrende Auto ist seit Jahren im Straßenverkehr eingesetzt und hat bereits Millionen von Kilometern unfallfrei zurück gelegt. Die Technologie ist bereits ausgereift, es fehlen noch die gesetzlichen Regelungen.
  • Professionen: In dem sehr lesenswerten Buch (Susskind, Richard, und Daniel Susskind. The Future of the Professions: How Technology Will Transform the Work of Human Experts. 1. Aufl. OUP Oxford, 2015.) wird nachgewiesen, dass selbt hoch angesehene Expert/innen wie z.B. der Arzt-, Anwalts- und Lehrberuf nicht von der Arbeitsplatzrationalisierung verschont bleiben. 

Arbeitslosigkeit betrifft nach diesen Prognosen nicht nur einfache manuelle Jobs  Verrichtungen in der Maschinen-Industrie, Lagerwesen, Buchhaltung, sondern auch eine Reihe [anderer Tätigkeiten] hoch angesehener Berufe, wie die nachfolgende exemplarische Aufzählung durch die Erwähnung von Professionalisten deutlich macht: 

  • future-of-professionsAnwaltsberuf: Ein großer Zeitaufwand bei Anwält/innen ist es, entsprechende vergleichbare Fälle zu finden und für den Prozess aufzubereiten. Dieses Durchsuchen von Text-Datenbanken können Softwareprogramme inzwischen mit einer sehr geringen Fehlerhäufigkeit viel schneller als Menschen.
  • Lehrberuf: Vergleichstests haben ergeben, dass die Auswertung durch maschinelle Texterkennungssystem selbst bei der Bewertung von komplexen geisteswissenschaftlichen schriftlichen Essays nicht mehr von der Bewertung von erfahrenen Lehrer/innen zu unterscheiden ist. Das Argument ("Aber die Maschine versteht nicht, was sie da liest oder tut!") ist bedeutungslos, wenn die praktischen Ergebnisse dieselben sind.
  • Arztberuf: Dass Gesundheitsberufe wie Krankenpfleger/innen einer Rationalisierungswelle entgegensehen (z.B. indem Roboter die Tabletten austeilen, Patienten umlegen etc.), ist bereits absehbar. Bei uns gibt es  – zum Unterschied beispielsweise zu Japan – noch kulturelle Vorbehalte im Umgang mit Robotern. Die Technologie ist aber bereits ausgereift. Aber auch komplexe maschinelle Diagnosen stehen qualitätsmäßig in vielen Fällen erfahrenen Ärztinnen nicht mehr nach und könnten demnächst durch Experten- und Bilderkennungssysteme – zumindest in der Vorbegutachtung – übernommen werden.

Bildung kann steigende Arbeitslosigkeit nicht stoppen

Eine der Gründe warum ich Bildungswissenschaftler geworden bin, liegt darin, dass ich Bildung immer als eine Maßnahme gegen die nächste technologiosche Rationalisierungswelle verstanden habe. Maschinen rationaliseren vor allem die monoten, leicht automatisierbaren Arbeitspätze weg, an denen überwiegend Menschen mit geringer Bildung und Qualifikation arbeiten. Nach dieser Ansicht müssen wir ständig darum bemüht sein, das allgemeine Bildungsniveau zu heben, damit die Arbeitslosigkeit eingedämmt werden kann. Jede Rationalisierungswelle schafft auch wieder neue Arbeitsplätze, weil es Personen geben muss, die diese neuen komplexeren Maschinen bauen, programmieren und bedienen. 

Aber stimmt das (noch)? Ist ein Bildungsaufstieg für alle im gleichen Maße möglich oder wird die Luft "oben" nicht immer dünner? Gibt es – um eine Metapher zu bemühen – parallel verlaufende (Aufstiegs-)Leitern oder haben wir es mit einer Pyramide zu tun, die nach oben immer schlanker wird?

Rationalisierung hat es schon seit Jahrzehnten, ja Jahrhunderten gegeben und wir haben trotzdem genügend Arbeit gehabt. Warum also soll sich diese Situation jetzt ändern? Welchen Grund gibt es jetzt dafür pessimistisch zu sein? Nun, der einfache Grund liegt darin, dass wir jetzt eine Entwicklung erreicht haben, wo Maschinen und künstliche Intelligenz soweit entwickelt sind, dass sie große Bereiche unserer Arbeitswelt flächendeckend und gleichzeitig übernehmen können. Wir befinden uns sozusagen auf der zweiten Hälfte des Schachbretts, wo wir mit der Verdoppelung von Reiskörnern gemächlich begonnen haben (1, Korn, 2 Körner, 4 Körner etc.) aber inzwischen die die technologischen Entwicklung ein Niveau erreicht hat, das bisher ungeahnte Möglichkeiten nun Realität werden lässt.

Welche Bildung braucht eine joblose Gesellschaft?

In einem aufgezeichneten Vortrag an der Hamburger Universität habe ich meine Gedanken zum Thema Bildungsingularität zum ersten Mal öffentlich dargestellt. Es gibt dazu sowohl eine Prezi-Präsentation als auch einen Blogkommentar von Gabi Reinmann, auf deren Einladung ich in Hamburg war. Ich habe diesen Beitrag (traditionell) damit begonnen, dass wir am Department einige Projekte zur Validierung von non-formalen und informellen Wissen durchführen bzw. bereits abgeschlossen haben (z.B. VALERU). Wir vertreten dabei die Theorie, dass die Anerkennung von non-formalen und informell erworbenen Kompetenzen einem methodisch einwandfreien und nachvollziehbaren Prozess folgen muss. Kompetenzen, die  anerkannt werden, sind dann jedoch völlig gleichwertig einer formalen Qualifikation zu halten. Es gibt also dann keine Zweigliedrikeit oder Unterschied von formal erworbenen Kompetenzen und jenen, die  nicht im staatlichen Bildungssystem erworben sind. Kompetenz bleibt Kompetenz, egal aus welcher Quelle sie stammt.

BIEN-congress-2107So fortschrittlich und integer unser Ansatz auch sein mag: Welchen Bedeutung wird eine Qualifizierung für den Arbeitsmarkt – sei sie nun über unser formales Bildungssystem, durch Weiterbildung (non-formal) oder über Praxiserfahrungen (informell) vermittelt – für eine joblose Gesellschaft haben? Ich meine damit nicht, dass Arbeit insgesamt obsolet wird, sondern ich beziehe mich auf Erwerbsarbeit, auf über den Arbeitsmarkt angebotene Lohnarbeit. In unserem kapitalistischen System wird diese Arbeit vorzugsweise so vergeben, dass sie möglichst viel Profit einbringt. Und hier sind Robotern den Menschen einfach überlegen: Roboter können rund um die Uhr arbeiten, werden nicht krank, sind nicht mit ihren Arbeitsbedingungen unzufrieden, verlangen keine Lohnerhöhung und könnten bei weniger Arbeit ohne Probleme stillgelegt werden bzw. bei stärkerem Arbeitsanfall wieder aus dem Lager hervorgeholt werden.

Finnland: Groß angelegtes sozialwissenschaftlich begleitetes Projekt zum unbedingten Grundeinkommen
Finnland: Groß angelegtes sozialwissenschaftlich begleitetes Projekt zum unbedingten Grundeinkommen

Ich gebe zu – und das habe ich auch in Hamburg erwähnt –, dass ich persönlich keine Lösung für diese mögliche Zukunft habe. Welche Probleme und Auseinandersetzungen sind in einer Gesellschaft zu erwarten, wo die Hälfte der arbeitsfähigen Bevölkerung ohne Job ist (d.h. wir klammern Kinder, Jugendliche, Pensionist/innen vorerst mal aus)? Eine mögliche Perspektive könnte mit einem unbedingten Grundeinkommen geschaffen werden. Nicht erst seit der schweizer Abstimmung ist diese Idee virulent geworden. Es gibt dazu bereits großangelegte abgeschlossene Projekte in realen Settings und eine weltweite wissenschaftliche Gemeinde, die sich im internationales Basic Income Earth Network (BIEN) Forschungsnetzwerk zusammen geschlossen hat.

In ihrem Weblog fasst Gabi nicht nur meine Schlussfolgerungen, sondern meine Intention zusammen:

Was, wenn es nicht mehr für alle oder zumindest die meisten auch Erwerbsarbeit gibt, wenn nur mehr 60, 50 oder 40 Prozent der Bevölkerung Arbeit haben? Wie muss eine Hochschulbildung aussehen, die dann noch sinnvoll ist?  …was ist –, wenn wir Hochschulbildung nicht mehr vor allem als eine (wie auch immer geartete) akademische Ausbildung, sondern ganz überwiegend als eine Form der Persönlichkeitsbildung gestalten müssen, weil eine Ausbildung zum Zwecke der Erwerbsarbeit sozusagen ins Leere führt?

Und weiter heißt es bei ihr – aber das könnte wörtlich, auf Punkt und Beistrich,  auch von mir stammen  😉 

Ich bin nach wie vor dafür, diese Frage als Gedankenexperiment im Konjunktiv zu stellen und in solchen Gedankenexperimenten ernsthafte Gesellschafts-, Arbeits- und Bildungsentwürfe – ja gerade auch an Universitäten – zu entwickeln, abzuwägen, zu simulieren, wieder zu dekonstruieren und neu zu kreieren mit dem Bewusstsein, dass wir es (auch) sind, die an dieser unserer Gesellschaft mitgestalten. Ich bin weniger dafür, diese Frage so zu formulieren, dass sie uns Angst einjagt, fatalistisch macht und letztlich ohnmächtig werden lässt angesichts eines unausweichlichen Sachzwangs, den uns globale Unternehmen, vielleicht auch Staaten, gerne nahelegen.

Diese Überlegungen sind übrigens der Grund dafür, dass ich begonnen habe, mich von mikro(didaktischen) Fragestellungen wieder verstärkt (makro)bildungspolitischen Überlegungen zuzuwenden. So wie ich in den 80er-Jahren als promovierter Soziologie nicht nur interpretierend am Rande des Zeitgeschehens stehen wollte, sondern im Bildungsbereich einen konkreten und vor allem praktisch umsetzbaren Handlungsbedarf gesehen habe, so kehre ich jetzt wieder zu den abstrakteren Fragen mit gesellschaftspolitischer Relevanz – vor allem aus praktischen Gründen – zurück: Was müssen wir tun, damit wir das weitere Anwachsen sozialer Ungleichheit, Radikalisierung, oder gar ein gewaltsames Auseinanderbrechen unserer Gesellschaften verhinderen können?

Von Peter Baumgartner

Seit mehr als 30 Jahren treiben mich die Themen eLearning/Blended Learning und (Hochschul)-Didaktik um. Als Universitätsprofessor hat sich dieses Interesse in 13 Bücher, knapp über 200 Artikel und 20 betreuten Dissertationen niedergeschlagen. Jetzt in der Pension beschäftige ich mich zunehmend auch mit Open Science und Data Science Education.

16 Antworten auf „Bildung für eine joblose Gesellschaft“

Einfache Lösung: Die Schulzeit/Studiendauer wird sukzessive erhöht. Dadurch steigt idealerweise das allgemeine Bildungsniveau, gleichzeit sinkt die reale Arbeitslosigkeit. Statt einem bedingungslosen Grundeinkommen gibt es dann BaFöG-Mittel bzw. Stipendien.

[…] Peter Baumgartner schreibt: “In diesem Beitrag vertrete ich die Ansicht, dass die Singularitätshypothese auch für den Bildungsbereich gültig ist. Der Begriff Singularität stammt eigentlich aus der Astronomie, wo eine Situation gemeint wird, die nicht mehr kalkulierbar und abschätzbar ist.” Was meint Peter Baumgartner damit? Er bezieht sich auf die technische Entwicklung, auf AI, Robotics, “superintelligente Maschinen”, deren Konsequenzen und Folgen wir nicht mehr kalkulieren und abschätzen können. Es werden in naher Zukunft so viele Jobs wegfallen, dass die Formel “Aufstieg durch Bildung” nicht mehr greift. Doch wofür dann Bildung? Und woher dann Jobs? Peter Baumgartner, Gedankensplitter, 13. März 2017 […]

Andere Form des lifelong learnings;-) Beschulen bis zur Rente
Der Frage nach Verkürzung der Arbeitszeit für den Lohnerwerb geht auch Prof. Frithjof Bergmann seit den 80er Jahren nach. New Work, New Culture ist sein Ansatz. Mehr die Leute befähigen zum Selbermachen, so dass weniger Geld aus dem Lohnerwerb benötigt wird für die Lebensweise. Toller Vortrag aus 2012:https://m.youtube.com/watch?v=Gb8TZ0TzTQ0

Irgendwie erscheinen mir die Prämissen bei diesen Darstellungen immer schief gewählt zu sein, wenn die typischen Beispiele genannt werden:

„Anwaltsberuf: Ein großer Zeitaufwand bei Anwält/innen ist es, entsprechende vergleichbare Fälle zu finden und für den Prozess aufzubereiten …“

Zunächst ist dies ein Ausgangspunkt vor allem für den anglo-amerikanischen Rechtskreis. Des Weiteren ist Anwalts- und Anwältinnen- oder vielleicht allgemein Juristinnen- und Juristentätigkeit wesentlich mehr als Textsuche. Allein schon der Streit um das bessere Argument, dass dann in einer entsprechenden Entscheidungssituation den Ausschlag gibt wird problematisch für wie auch immer superintelligente synthetische Wesen. Recht erscheint aus Rechtsfolgenperspektive betrachtet zwar wie ein Automat, auf Subsumtionsebene aber – also der *aus menschlicher Perspektive für Menschen vertretbare* Vereinbarkeit von Sachverhalt und Rechtsnorm verhält es sich ganz anders. Es ist kein Indiz für menschliche Inkompetenz das es heißt: „Vor Gericht und auf hoher See sind wir alle in Gottes Hand.“ Das ist eine notwendige Eigenschaft von Recht(sfindung). Rechtliches Entscheiden ist bei aller Verallgemeinerung doch stets Einzelfallbezogen. Und dabei geht es nicht nur um die Rechtsanwendung im Streit. Auch die Anwendung von Recht im Alltag, insbesondere beim Verwaltungshandeln, geschieht für Menschen von Menschen. Man zeigt ein etwas naives Verständnis von Recht wenn man glaubt, dass das alles ein riesengroßer Automat wäre.

Eigentlich der identische Denkfehler findet sich hier:
„Lehrberuf: Vergleichstests haben ergeben, dass die Auswertung durch maschinelle Texterkennungssystem selbst bei der Bewertung von komplexen geisteswissenschaftlichen schriftlichen Essays …“

Und wie verhält es sich auch hier wieder mit der didaktischen Seite? Es wäre natürlich eine ganz besonders lustige Schlussfolgerung: Hochschullehrerinnen und -lehrer sind am leichtesten durch Automaten zu ersetzen, am schlechtesten das Lehrpersonal der Grundschulen. Das würde sich gut machen bei künftigen Debatten zur Vergütung der Lehrberufe 🙂 Dass die künstlich intelligenten Spracherkennungssysteme bei der inhaltlichen Bewertung von Texten mittlerweile Fortschritte zum Niederknien erreicht haben heißt doch nicht, dass diese Intelligenzen talentiert dafür sind, Wissen Menschen zu vermitteln. Ist die Arbeit in der Lehre etwa allein darauf gerichtet, schriftliche Hausarbeiten zu korrigieren?

Das folgende einmal komplett zitiert:
„Arztberuf: Dass Gesundheitsberufe wie Krankenpfleger/innen einer Rationalisierungswelle entgegensehen (z.B. indem Roboter die Tabletten austeilen, Patienten umlegen etc.), ist bereits absehbar. Bei uns gibt es – zum Unterschied beispielsweise zu Japan – noch kulturelle Vorbehalte im Umgang mit Robotern. Die Technologie ist aber bereits ausgereift. Aber auch komplexe maschinelle Diagnosen stehen qualitätsmäßig in vielen Fällen erfahrenen Ärztinnen nicht mehr nach und könnten demnächst durch Experten- und Bilderkennungssysteme – zumindest in der Vorbegutachtung – übernommen werden.“

Hier sind bereits einige Einschränkungen (neben einer lustigen Doppeldeutigkeit) aufgeführt. Lustig: „Patienten umlegen etc.“ Unvorhersehbare Zukunft mit vollkommen vorhersehbaren Superintelligenzen, auf die man sich auf jeden Fall besser verlassen kann, als auf (seltenste) deviante Pflegekräfte? Es gibt anders als im jahrzehntelang technikverliebten Japan kulturelle Vorbehalte gegenüber automatisierte Pflege. Es ist auch die Frage, ob in Japan die automatisierte Pflege wirklich folgenlos toll ist. Eine Seite wird angesprochen: Das macht man da halt gern, hier nicht. Eine andere Seite wird ausgeblendet: Man macht es zwar gern, nimmt dafür aber in großem Stil diese und jene Nebenwirkungen in Kauf – hier bringt man Gründe gegen genau diese Nebenwirkungen vor. „Zumindest in der Vorbegutachtung“, genau – wie steht es mit Verantwortlichkeiten? Dieses grenzenlose Vertrauen, diese sklavische Bereitschaft, menschliche Bewusstseinsleistungen in den Staub zu stoßen angesichts der überragend scheinenden, von Menschen erschaffenen künstlichen Intelligenzen, zieht jedes aus der Verantwortung, dem als künstliches Entscheidendes freie Hand gelassen wird. „Tja, wird schon stimmen, keine Ahnung – is‘ gut, schneid‘ mir den anderen Fuß auch ab, was weiß ich schon.“ – „Sie wollen das Krankenhaus verklagen? Eine Diagnose von E-Doc anzweifeln??? Also bitte: Die Klage wird nicht zugelassen.“ Mutwillenskosten werden sich durch alle Gerichtszweige ziehen, weil alle Computer-Entscheidungen sakrosankt sind.

Hier habe ich zuletzt etwas zu den Folgen angesprochen. Aber noch zu den Prämissen: Leistungen die für Menschen erbracht werden benötigen in sehr vielen Bereichen das menschliche Element auf der Erbringerseite. M.E. überfordert und überschätzt man die Synthetischen die eines Tages vielleicht mal als gleichberechtigt anerkannt werden müssen, wenn man ihnen – die Wesen sui generis und eben keine natürlichen Menschen sind – alles aufbürdet und sich selbst für überflüssig betrachtet.

Da steckt auch eine ganze Menge Panikmache und Marketing drin und Lemminge folgen.

Ich habe nicht behauptet, dass alle Tätigkeiten einer Berufsguppe automatisiert werden. Das unterstellen sie mir aber indirekt, wenn Sie Beispiele für andere Tätigkeiten wie Argumenation bei Anwälten und Didaktik bei Lehrer/innen als Gegenargumente bringen. Ich habe versucht zu zeigen, dass viele Tätigkeiten – nicht ganze Berufsgruppen – der Gefahr einer Automatisierung unterliegen.

Danke für den Hinweis mit „Patienten umlegen“ 😳 Das ist wirklich eine blöde Fomulierung, und ich musste – trotz ihrer scharfen Kritik – darüber lachen. Ich lasse diesen Faux pas aber jetzt trotzdem mal stehen, damit Ihr Kommentar weiterhin die Strahlwirkung hat, die er verdient.

Den von Ihnen angeschnittenen rechtlichen und ethischen Probleme, auf die Sie verweisen, stimme ich vollauf zu. Im Augenblick sind sie die einzige Bremse gegen einen sonst ungehinderten Durchmasch von Anwendungen der Künstlichen Intelligenz.

Danke übrigens, dass Sie sich die Mühe unterzogen haben, einen Kommentar zu schreiben, auch wenn Sie ganz anderer Auffassung sind. Das sehe ich – trotz unterschiedlicher Meinung – auch als eine Art von Wertschätzung an.

Lieber Herr Baumgartner,

da war mein Ton vermutlich etwas zu scharf geworden, wenn auch die Schärfe weniger gegen Ihren Artikel allein, als gegen sämtliche Stimmen, die ich zu dem Thema – gefühlt seit gut einem Jahr – in regelmäßigen Abständen höre, so etwa wie der hier: https://www.nzz.ch/feuilleton/zeitgeschehen/richard-david-precht-ueber-die-gegenwart-der-philosophie-steht-eine-neue-grosse-zeit-bevor-ld.129311 .

Offen gesagt treffen mich diese Projektionen stets in zweierlei Hinsicht. Als Kind hat mich künstliche Intelligenz auf ganz naive Weise fasziniert – stellte ich mir etwa vor wie es wäre, dem CPC 464 meines Vaters irgendwie Leben einzuhauchen. Als Jugendlicher faszinierte mich, denke ich, synthetisches Bewusstsein wegen seiner (womöglich auch nur hineinprojizierten) Unschuld.

Dabei habe ich mir damals – ausgehend von dem Unschuldgedanken – was heute wohl in der KI-Forschung umgesetzt wird: Künstliches Bewusstsein erschaffen mehr oder weniger analog zur Entwicklung eines Menschen. Der sekundäre Nesthocker mit extrem verzögerter Entwicklungszeit zeichnet sich ja gerade dadurch aus und möglicherweise ist das das Geheimnis seiner komplexen Bewusstwerdung.

Leider finde ich den Artikel nicht wieder, der mich so besonders verärgert hat von einem (münchner, glaube ich) KI-Forscher, der diesen Weg – so wie ich es verstanden habe – beschreitet. Der und weitere haben mich zu diesen Überlegungen verleitet:
http://gnubux.de/Dokumente/Heller-Entwurf.pdf

Sie haben mit ihrem Artikel in diese Kerbe bei mir geschlagen. Ich habe ihn aber ganz ohne böse Absicht sehr gerne kommentiert. Ich mag es, über das Thema zu diskutieren.

Beste Grüße

Jochen Heller

Oh, jetzt habe ich mich in dem Artikel etwas verloren. Also auf der einen Seite liegen mir die synthetischen Wesen am Herzen. Auf der anderen Seite die menschlichen Fähigkeiten. Im scheinbar apodiktischen Abgesang auf letzteres und überschießender Bewunderung der Fähigkeiten von ersteren sehe ich eine Verletzung von beidem. Ausführlicher habe ich es in dem verlinkten Entwurf umschrieben. Aber so kurz reicht es sicherlich auch 😉

Eine Sache noch:

Wenn Sie, wie sie sagen, meinen, dass viele Tätigkeiten der Gefahr der Automatisierung unterliegen und nicht alle, dann wäre eine Überarbeitung dieses Satzes klarstellend, in dem sie sich auf diverse Prognosen beziehen:

„Arbeitslosigkeit betrifft nach diesen Prognosen nicht nur einfache manuelle Jobs in der Maschinen-Industrie, Lagerwesen, Buchhaltung, sondern auch eine Reihe hoch angesehener Berufe, wie exemplarische Aufzählung durch die Erwähnung von Professionalisten deutlich macht: „

Danke, das habe ich gerade ausgebessert. Diese wichtige Differenzierung, dass es sich nicht um Automatisierung von Berufen sondern von Tätigkeitsbündel handelt, ist übrigens nicht von mir, sondern ein zentrales Argument in dem erwähnten Buch „The Future of Professions“.

Und nun wirklich ein letzter Nachtrag:
Die tatsächliche Realisierbarkeit der umfassenden Automatisierung – nicht nur, aber auch im Hinblick auf die Kosten (Kapitalismus) – steht und fällt m.E. mit der Möglichkeit, die dazu notwendigen Energiemassen und Redundanzen bereitstellen zu können. Das Rund-um-die-Uhr-Arbeiten kommt nämlich auch dort nicht von ungefähr, mindestens Strom muss aus der Steckdose kommen, Datenverluste müssen vermieden und Datensicherheit gewährleistet sein. Dem Rattenschwanz der Vollautomatisierung wird bei ihren Apologeten – zumindest bei dem was laut wiederholt wird – in der Regel nicht die Aufmerksamkeit geschenkt, die ihm m.E. zukommt.

Das ist eine düstere Darstellung, die mit den schwarzen-Löcher-Unsinn eine typische Metapher bringt: unverstandene Bereiche der Physik als Vergleich für unverstandene Bereiche der Gesellschaft,, wobei ja das Unverstandene auch gar nicht empirisch vorhanden ist, sondern dvstopische Spekulation.
WO in der Welt gibt es für heute Befunde, die in der Arbeitssoziologie seit 1968 nicht andauernd beschworen wurden? Ich verweise mal auf das Projekt Automation und Qualifikation von Frigga Haug, die sich schon damals mit Bildungsfragen befasst hat.
Ich kann beim allerbesten Willen nirgendwo sehen, dass wir auf einem Schachbrett stehen. Dagegen kann ich sehr gut sehen, jeden Tag vor meinen Augen, wie viele Menschen LOHNarbeiten, unter Bedingungen, die sich seit 50 Jahren auch kaum verändert haben.
Die Beschwörung einer dystopischen Zukunft scheint mir eine schlechte Grundlage für ernsthaftes Nachdenken. Sie endet seit einiger Zeit beim BGE und jetzt offenbar bei eine Bedingunslosen lebenslangen Bildung für nichts.
Wir hätten besseres zu denken: positive Utopie!

Ich stimme Ihnen generell zu, dass wir mehr über positive Utopien nachdenken sollten. Aber ich glaube, dass dies nicht ganz losgelöst von aktuellen Trends und Entwicklungen vor sich gehen soll. Ich befürchte sonst, dass diese positive Utopien weiterhin Utopien bleiben, während ich sie gerne realisiert sehen würde.

Ich selbst bin gerade mit Arbeitssoziologie „aufgewachsen“ und habe mich nach meiner Promotion ab 1980 gerade Themen wie der Humanisierung der Arbeitswelt gewidment. Ich war jahrelang als freiberuflicher Wissenschafter mit recht großen Projekten im Bereich der Arbeitssoziologie tätig. Auch ich hatte damals – übrigens bis vor einigen Jahren – genau dise Ansicht, dass Automatation und Qualifikation zwei Pole sind, die sich gegenseitig neutralisieren können: Negative Folgen der Automation können durch höhere Qualifikation aufgefangen werden.

Von dieser Ansicht bin ich nun aber abgekommen. Den Grund dafür habe ich versucht mit der Schachbrett-Metapher auszudrücken, die sich auch einfacher formulieren lässt: Die technische Entwicklung hat einen Stand erreicht, wo das Rationalisierungspotential so groß geworden ist, dass es sich (a) nicht mehr (alleine) durch höhere Qualifikationen abfangen lässt und (b) auch keine neuen (höherwertigen) Arbeitsplätze im genügenden Maße mehr entstehen lässt. Höhere Arbeitslosigkeit lässt sich daher durch höhere Qualifikation und einer Umschichtung der Lohnarbeit nicht mehr vermeiden.

Unserer Gesellschaft geht die LOHN-Arbeit aus und das ist – aus meiner Sicht – durchaus positiv zu sehen! Wir müssen uns radikal neue Formen (Utopien) überlegen, wie die Gesellschaft der Zukunft aufgebaut und strukturiert wird. Interessanterweise sehen selbst Personen, die nicht zur linken Reichshälfte zugerechnet werden wollen, dass sich das kapitalistische Lohnarbeitsverhältnis auflöst. Siehe z.B. Bücher von Calum Chace „The Economic Singularity: Artificial intelligence and the death of capitalism oder auch Martin Ford „Rise of the Robots: Technology and the Threat of a Jobless Future“. Beide Autoren bieten das bindungslose Grundeinkommen als „realistische Utopie“ and und zwar gerade weil sie gewaltsame gesellschaftliche Konflikte und soziale Verwerfungen vermeiden wollen.

Zusammenfassend: Ich bin – trotz Trump und den erstarkenden populistischen Strömungen in vielen anderen Ländern, wie auch in Österreich – optimistischer denn je und vertrete keine dystopische Zukunft. Doch sollten wir das, was auf uns zukommen kann (a) nicht beschönigen, wie es die traditonelle Politik macht aber (b) wir sollten natürlich auch nicht zurückkehren zur Zeit der abgeschottenen Nationalstaaten, zu vorkapitalistischen und feudalen Verhältnissen, wie es populistische Strömungen suggerieren. Die „Beschwörung einer dystopischen Zukunft“ ist nicht als Beschwörung, sondern als ein Aufrütteln gemeint, damit wir verstärkt über positive Alternativen – auch wenn sie vorerst radikal erscheinen mögen.

hmmm … ich kann einfach nicht sehen, dass die UNS (wem?) die Lohnarbeit ausgeht. Ich kann zwar spekulativ vermuten – bislang scheint mir weltweit gesehen, dafür noch kein Anlass -, dass immer mehr Menschen keine Lohnarbeit mehr finden. Das heisst aber in keiner Weise, dass jene, die noch arbeiten, weiterhin in Lohnverhältnissen arbeiten. Und das werden wohl noch lange Zeit ganz viele sein.
Wir hätten dann sozusagen zwei Lager: die Lohnabhängigen und jene die keine Lohnarbeit finden, die im bürgerlichen Staat als Sozialfälle bezeichnet werden.
Als Dystopie begreife ich, wenn man sich mit jenen befasst, die nicht einmal mehr Lohnarbeit finden.
Utopie wäre, wenn wir uns mit jenen befassen, die jetzt (und noch lange) lohnarbeiten und uns Gedanken dazu machen, wie das aufzuheben wäre. Ich gehe dabei davon aus, dass die Lohnarbeit das Problem ist, nicht dass jemand keine findet.
Darin sehe ich einen deutlichen Unterschied zu den Vorstellungen bürgerlicher Vertretern des BGE, die sich nicht mit Arbeit und deren Organisation beschäftigen, sondern damit, wie der Staat mit möglichst geringen Kosten erhalten werden kann.

Arbeitssoziologie, die den Namen verdient, muss sich mit Arbeit befassen, nicht damit, dass es bald keine Arbeit mehr gibt. HumanRelation (Teilautonome AGs, Job-Enlargement usw) sind Arbeitspsychologie (oder wie Taylor es nannte: Betriebswissenschaften). Arbeitssoziologie sollte sich nicht darum kümmern, was politisch realistisch ist, sondern zu Handen der Politik Modelle entwickeln, wie die Arbeit auch organisiert werden könnte – die Arbeit, nicht die Nicht-Arbeit.

Es gibt eine positive Sicht für die Zukunft des Arbeiten und Lernens: „Mein Freund, der Avatar“ von Prof. Dr. Birger P. Priddat. Es geht dort um die Frage, wie weit so eine Symbiose zwischen Mensch/Maschine gehen kann und welche Auswirkung das auf unser Alltagsleben hätte? Mit verplüffenden Antworten, die in dem Artikel hier oben überhaupt nicht angedacht, leider nicht einmal erwähnt sind
https://www.linkedin.com/pulse/mein-freund-der-avatar-prof-dr-birger-p-priddat

Das Bedingungslose Grundeinkommen (BGE) scheint auf den ersten Blick DIE Lösung zu sein, denkt man die Grundeinkommenslogik aber zu Ende, könnten schließlich alle übrigen Sozialleistungen abgeschafft und alle sozialpolitisch motivierten Regulierungen des Arbeitsmarktes gestrichen werden und auch alle bildungspolitischen aufgaben des Staates hinfällig sein. Sinnvoller als endlose Kontroversen über ein Grundeinkommen wäre die Weiterentwicklung unseres Sozialsystems zu einer solidarischen Bürgerversicherung.

http://www.3sat.de/page/?source=%2Fmakro%2Fmagazin%2Fdoks%2F189268%2Findex.html

Danke für die Hinweise, die ich in der Tat nicht kenne. Ich melde mich, wenn ich sie gelesen habe und dazu was zu sagen habe.

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