Didaktische Vielfalt statt Anpassung an Lernstil
Am Dienstag voriger Woche referierte Sabine Graf im Rahmen unserer Veranstaltungsserie "bt talks" über "Adaptivität in Lernplattfomen – Wie können Lernstile erkannt und berücksichtigt werden?". Siehe ausführlich dazu meine Notiz unter News. Ergänzend möchte ich hier noch einige weitere kritische Anmerkungen zur Lernstildebatte anfügen.
Ehrlich gesagt gefällt mir die ganze Philosophie die hinter der Lernstildebatte steht nicht: Sie geht ja nicht nur davon aus, dass es unterschiedliche Lernstile gibt, sondern, dass deren empirische Feststellung und Nutzung mithelfen kann, den Lernerfolg zu verbessern.
Lernstile sind theoretische Konstrukte
Die Schwierigkeit bei der ersten Prämisse ("Menschen haben unterschiedliche Lernstile.") besteht darin, dass Lernstil natürlich ein theoretisches Konstrukt ist, das – je nachdem was unter Lernen verstanden wird und welche Lernziele verfolgt werden - unterschiedlich zu definiert ist. Die Schwierigkeit einer Operationalisierung zeigt sich meiner Meinung nach schon daran, dass z.B. nicht auf die von Anderson & Krathwohl überarbeitete Bloom'sche Taxonomie [Anderson, L. W. und D. R. Krathwohl, Hg. (2001). A Taxonomy for Learning, Teaching, and Assessing. A Revision of Bloom's Taxonomy of Educational Objectives. New York, Addison-Wesley.] mit ihren 6 unterschiedlichen hierarchischen kognitiven Prozessen Bedacht genommen wird. Je nachdem ob erinnern, verstehen, anwenden, analysieren, bewerten oder erzeugen als Lernziele angenommen werden, ergeben sich je unterschiedliche Bedeutungen von Lernobjekten.
Die von Sabine Graf verwendeten Operationalisierungen (häufiges und langes Verweilen bei Beispielen für reflexiven Lernstil bzw. häufiges und langes Verweilen bei Übungen für aktiven Lernstil) müssen im Lichte unterschiedlicher Lernziele differenziert bewertet werden. Das Durchlesen von Beispielen als Muster für die Generierung eigener Lösungen hat einen ganz anderen Charakter als das Durchlesen von Beispielen um sich in die Thematik einzuarbeiten, sie zu erinnern bzw. zu verstehen. Im Suchen bzw. Erfinden eigener Lösungen geht es bei der Betrachtung von Beispielen um konstruktive gedankliche Lösungen (etwa durch Verfremden, Analogiebildung etc.) also um (mentale) Aktionen die durchaus dem Trial & Error, Probieren, Experimentierten etc. von Übungen entsprechen.
Didaktische Vielfalt bieten statt auf vermeintlichen Lernstil anpassen
Das was mich jedoch am meisten stört, ist die Vorstellung, dass wir den Lernenden ihren Lernprozess erleichtern, wenn wir ihnen das Material angepasst an dem je individuellen Lernstil präsentieren. Diese Vorstellung geht davon aus, dass Lernende das Lernmaterial "präsentiert bekommen", also nicht aktiv ihren eigenen Prozess der Wissenskonstruktion organisieren und steuern können. Wie ich schon mehrfach hingewiesen habe (z.B. zuletzt in [Baumgartner, P. (2007). Didaktische Arrangements und Lerninhalte - Zum Verhältnis von Inhalt und Didaktik im E-Learning. In: Überwindung von Schranken durch E-Learning. Hrsg.: P. Baumgartner und G. Reinmann. Innsbruck-Wien-Bozen, StudienVerlag. 149-176.]), wird immer wieder implizit von einem sehr niedrigen Lernziel (Stufe 1 oder 2: Erinnern oder Verstehen) ausgegangen und dieses niedrige Lernziel automatisch mit "Lernen" ganz allgemein gleichgesetzt.
Wohl hat Sabine Graf darauf hingewiesen, dass es ihr um einen kurzfristigen Lernerfolg geht und nur dort die Anpassung an den vorhandenen Lernstil Sinn macht, während bei einer längerfristigen Betrachtung durchaus zu überlegen wäre, ob es nicht gerade eine wichtige didaktische Strategie sein kann, jenen Lernstil zu forcieren, der im Augenblick noch nicht so entwickelt ist. Aber auch diese Bemerkung beruhigt nicht mein Unbehagen, dass wir es uns – sicherlich gut meinend – herausnehmen, die Lernenden zu entmündigen. Meiner Ansicht nach wäre es als strategisches Ziel weit zielführender, wenn wir den Lernenden eine möglichst hohe Anzahl an unterschiedlichen Interaktionsformen (didaktischen Modellen) anbieten, aus denen sie sich selbständig die von ihnen bevorzugten didaktischen Szenarien auswählen können. Das kann dann sowohl eine bewusste Mischung von Modellen sein, denen wir - objektivierend von außen betrachtet - unterschiedliche Lernstile zuordnen. Das kann aber auch eine in unserer Theorie konsistente Wahl von Modellen sein (Heureka!) - oder aber im Spass des Experimentierens auch ein Durcharbeiten des gesamten didaktisch reich variierten Angebots sein. Ich halte Forschungen zur didaktischen Vielfalt – ohnehin eine Vorbedingung um adaptiv für sog. "Lernstile" anbieten zu können – weit vielversprechender als sich mit den vielen Details der recht komplexen Variablenisolierung und Operationalisierung, die die Lernstildebatte prägt, weiter herum zu schlagen.
Noch ein Wort zur Methode: Triangulation!
In der – wie mir scheint - von Sabine Graf sauber durchgeführten Dissertation wurde mehrmals das in den Sozialwissenschaften bewähte Verfahren der Methodentriangulation (Methodenmix) durchgeführt: So wurde beispielsweise sowohl Fragebogen als auch Tracking als Methode zur Feststellung eines präferierten Lernstils herangezogen. In Zeiten jedoch wo Everything is Miscellaneous (Das neue ausgezeichnete Buch von David Weinberger - ein "Muss-Buch" für Metadaten-Interessierte, Indexer und Social Tagger) scheint mir dies jedoch keineswegs mehr ausreichend zu sein.
Was wir selbstverständlich auch brauchen ist Datentriangulation, d.h. ein Mix aus Daten von verschiedenen Quellen. Sich bloß auf eine Untersuchung zu beziehen, legt dem vorhandenen Datenmaterial eine viel zu große Bürde auf. Das mag für das eingeschränkte Ziel einer Falsifzierung vielleicht manchmal reichen, für die Entwicklung von Theorien ist das Verlassen auf eine Daten-Monokultur aber auf keinem Fall ausreichend.
Notwendig ist natürlich auch eine Theorietriangulation, die von Sabine Graf durch die Wahl des Felder-Silverman Modells gelöst wurde. Die 4 Dimensionen (aktiv/reflexiv - sinnlich/intuitiv - visuell/verbal und sequentiell/global) sind selbst eine Mischung von verschiedenen theoretische Modellen (David Kolb, Myers Briggs Type Indicator etc.). Tatsächlich hat sich das Felder-Silverman Modell recht weit durchgesetzt. Doch ist zu bedenken, dass sich bestimmte Ideen häufig nicht wegen einer besseren Übereinstimmung mit der Realität sondern wegen ihrer besseren Replikationsmöglichkeit durchsetzen (vgl. dazu Memetics bzw. Meme). Bereits die Studie des Learning and Skills Research Centre von 2005 hat die 71 festgestellten Lernstile auf 13 Modelle reduziert. Empirische Untersuchungen mit einem erweiteren Theorie- bzw. Modellset sind daher mE dringend angebracht.
Triangulation der ForscherInnen
Mit dem Internet ist zum ersten Mal auch in großem Stile eine ForscherInnentriangulation möglich: Durch Blogs, Wikis etc. ist ein Beratungs- und Diskussionsprozess unter Gleichgesinnten möglich. Dadurch wird "Einsamkeiten" bzw. "Elfenbeintürme" von ForscherInnen aufgehoben und sowohl bei der Produktion von Ideen als insbesondere in deren Ausarbeitung das Aushandeln und damit Berücksichtigen von multiplen Standpunkten möglich. Wenn ForscherInnen es wagen ihre Standpunkte bereits während des Forschungsprozesses und damit weit vor der Veröffentlichung zur Diskussion zu stellen, dann vermeiden sie die Gefahr bestimmte Bedingungen übersehen oder sich in einen Irrweg verlaufen zu haben.
Ich bin mir bewusst, dass diese Idee seltsam anmuten mag, weil damit ja anscheinend die Gefahr des Diebstahls von Ideen besteht. Doch glaube ich, dass das kooperative (Aus-)Arbeiten an Ideen sich mit einer geeigneten Organisationsform durchführen lässt. Es geht nicht darum, dass die Idee selbst im Nirwana der kooperativen Aktivitäten der Community verschwindet, sondern, dass kollaborativ an der praktischen Umsetzung der Ideen – und damit an ihrer Verifizierung gearbeitet wird.
Als Beispiel der ForscherInnentriangulation mag vielleicht die Idee von Lawrence Lessing dienen, der sich nach 10 jähriger Beschäftigung zu Copyrightfragen (siehe sein Blog) sich nun die nächsten 10 Jahre der Antikorruptionsarbeit (siehe Beitrag mit Video) widmen will. Die Idee, d.h. seine (!) Idee dabei ist es jedoch nicht die offensichtliche Bestechung aufzudecken (also z.B. Kongressabgeordneter X erhält 50.000 US$ und stimmt für ein bestimmtes Gesetz), sondern wo die Korruption durch eine subtile Antizipation eines - vielleicht auch nur indirekten – ökonomischen oder anderes gearteten Vorteiles stattfindet. Lessig hat dazu ein Anti-Korruptionswiki eingerichtet, wo er zu einer gemeinsamen Exploration dieser (seiner) Idee einladet.
Eine Fundgrube für weitere Beispiele, wie durch massenhafte Zusammenarbeit im Internet gemeinsam Vorteile erzielt werden können, finden sich in Wikinomics - How Mass Collaboration Changes Everything. Selbst in patentrechtlichen heiklen Situationen oder dort wo schärfste Konkurrenz unter Firmen um heiß umkämpfte Marktanteile herrscht kann die gemeinsame Produktion von Ideen (nach einem Begriff von Yochai Benkler auch Peer Production genannt) Win-Win Situationen erzeugen. Ich bin überzeugt davon, dass diese relativ neue Tendenz auch in den Wissenschaften Fuss fassen wird und sich in einer radikalen Veränderung des Arbeitsstils von ForscherInnen niederschlagen wird. Erste Andeutungen dazu finden sich sowohl in den obigen Links wo Websites wi Wikinomics nicht nur zur (nachträglichen) Diskussion von Büchern einladen, sondern gemeinsam am nächsten Band (The Wikonomics Playbook) gearbeitet wird. Auch im Buch von Michael Nentwich (Cyberscience: Research in the Age of the Internet) werden nicht nur die Konsequenzen von Cyberscience angesprochen sondern durch eine aktualisierte und durch Zusammenarbeit erweitere Linkdatenbank zur IKT-Nutzung im akademischen Bereich auch exemplarisch umgesetzt.
PS.: Ist – überraschend für mich selbst – ein langer Beitrag geworden. Eine endlich auskurierte Magen-Darmgrippe in Verbindung mit einem abgesagten Rerferatstermin im Ausland hat mich endlich mal dazu geführt, Gedanken, die ich schon länger hatte, mal zusammen zu schreiben. Muss ich öfter machen – nicht das mit der Grippe, sondern das mit wenigeren Terminen 😉