Von der Ordnung ungeordneter Informationen

Ein wichtiger Punkt der Argumentation in Weinbergers Buch Everything Is Miscellaneous ist es, die wesentlichen Unterschiede zwischen physikalischen Objekten (also der Welt der Atome und Moleküle) und digitalisierten Objekten (also die Welt der Bits und Bytes) deutlich zu machen. Das nachfolgende Beispiel des Supermarkts, bzw. des Bücherregals kann dazu vielleicht eine erste Annäherung bieten:


Oder: Wie gemeinschaftliches Indexieren die Welt unterschiedlich interpretiert

Ein wichtiger Punkt der Argumentation in Weinbergers Buch Everything Is Miscellaneous ist es, die wesentlichen Unterschiede zwischen physikalischen Objekten (also der Welt der Atome und Moleküle) und digitalisierten Objekten (also die Welt der Bits und Bytes) deutlich zu machen. Das nachfolgende Beispiel des Supermarkts, bzw. des Bücherregals kann dazu vielleicht eine erste Annäherung bieten:

Die Welt der Atome und Moleküle

Im Supermarkt (also der "körperlichen" Welt) beanspruchen physische Objekte einen Platzbedarf, nehmen Raum ein. Daraus ergeben sich eine Reihe von weitreichenden Konsequenzen.

  1. Manche Objekte sind näher als andere. ManagerInnen von Supermärkten machen sich das zunutze indem sie die wichtigen Dinge, die man/frau häufig braucht, möglichst weit hinten und schlecht zugänglich anordnen. So sind wir gezwungen die weniger wichtigen Dinge wahrzunehmen, die wir dann vielleicht – ohne das vorher gewollt zu haben - auch kaufen.
  2. Objekte können nur an einem einzigen Ort zur gleichen Zeit sein. Das bringt die unvermeidliche Frage auf: Was ist der beste Platz? Wo soll ich beispielsweise das Buch "Everything Is Miscellaneous" in meinen Bücherregalen einordnen? Dort, wo ich die Web 2.0 Bücher habe oder eher dort, wo ich Material für mein wissenschaftstheoretische (konstruktivistische) Kritik an Taxonomien sammle, oder eher dort, wo ich zitierfähiges Material für mein geplantes Buch zur Systematik von didaktischen Szenarien abgelegt habe. In dem einen Fall steht es dann vielleicht zwischen John Seely Brown & Paul Duguid "The Social Life of Information" und Jan Schmidt: "Weblogs. Eine kommunikationssoziologische Studie" im zweiten Fall neben Lorin Anderson & David Krathwohl "A Taxonomy for Learning, Teaching and Assessing" und Michael Foucault "Die Ordnung der Dinge". Das Buch ist also nicht nur in ganz unterschiedlichen Kontexten aufzuspüren sondern würde sich bei mir auch in zwei verschiedenen Räumen befinden. Um dieses Dilemma der Einordnung zu vermeiden, soll ich nicht vielleicht eine eigene Abteilung "Weinberger" beginnen und vielleicht alle meine Bücher alphabetisch nach AutorIn ordnen? Also auf eine fachliche (d.h. inhaltliche Spezifizierung – die ja immer ExpertInnen braucht) ganz verzichten und meine Bücher nicht nach inhaltlichen sondern nach formalen Kriterien sortieren?Es gibt nur jeweils eine Möglichkeit, wenn wir mal davon absehen, dass ich das Buch mehrmals kaufe. Und das Problem ist: Jede der beiden ersten Varianten hat ihre Berechtigung: einmal geht es mir um Social Software, ein anderes Mal um die Kritik an hierarchischen Kategorisierungen. Ich muss mich jedesmal wenn ich das Buch brauche daran erinnern, was damals - als ich es in das Bücherregal eingeordnet habe - der relevante Gesichtspunkt gewesen war.

    Also doch eher formal, sprich alphabetisch einordnen? Dann muss ich aber ständig die Bibliothek neu sortieren, weil Bücher als physische Objekte Raum brauchen. Mit Neuerscheinungen wird der vorgesehene Regalplatz für einen Buchstaben irgend wann einmal überschritten. Bei W wie Weinberger ist das nicht einmal so tragisch, weil nur die Bücher von Weinberger bis Zeilinger "Einsteins Schleier" umsortiert werden müssen. Schlimmer ist es dann schon, wenn ich selbst wieder ein Buch geschrieben habe: Da muss dann alles zwischen BA bis ZE herum geschoben bzw. von einem Regal ins nächste gestellt werden. Und dann ist schon eine recht ordentliche Gewichtsmenge, die da in Bewegung gesetzt werden muss. - OK, ich gebe zu, dass auch mal meine Sammlung der Kritik der Taxonomie den ihr ursprünglich vorgesehenen Platzbedarf beschränkt. Aber dann kann ich entweder ein neues Regal anfangen oder mit dieser kleinen Sammlung von Büchern auf ein Regal mit mehr Platz (z.B. weil es länger ist) ausweichen. Ich muss nicht die ganze Bibliothek umordnen.

    BTW: Ein guter Freund hat mir erzählt, dass seine neue Putzfrau das quälende Problem einer unsystematischen Bücherfront (große, kleine, dicke, dünne, gelbe, rote, grüne Buchrücken) einfach dadurch gelöst hat, dass sie alle Bücher mit dem Rücken zur Wand nach ihrer Höhe sortiert aufgestellt hat. Das hat zumindest zu einer adretten gleichförmigen weißen Erscheinung geführt...

  3. Es gibt nur ein Layout, nur eine An"ordnung" physischer Objekte. Wir müssen uns daher - wie die oben erwähnte Putzfrau –  für einen Ordnungsgesichtspunkt entscheiden, auch wenn unsere Bedürfnisse unterschiedlich sind bzw. sich verändern. Dieser ordnende Gesichtspunkt zwingt die Welt ins unsere Standardkategorien: Für Kinder und Behinderte in einem Rollstuhl sind manche Waren in Supermärkte nicht erreichbar.
  4. Ordnung ist ein monolithisches allumfassendes (totalitäres) System. Die einmal gewählte Perspektive muss als Ordnungssystem durchgängig und möglichst ohne Ausnahmen umgesetzt werden. Ein Buch, das in einer alphabetisch sortierten Bibliothek nicht an seinem Platz ist, kann nicht mehr aufgefunden werden. Es ist so, als ob es nicht mehr vorhanden, verschwunden ist.

Die Welt der Bits und Bytes

Aber alle diese Eigenschaften physischer Objekte gelten in der digitalen Welt nicht mehr. Die Welt der digitalen Informationen muss nicht mehr von ExpertInnen in sorgsam vordefinierten Schachteln vorsortiert werden. Projekte wie die von Menschen sortieren Informationslinks von Yahoo oder DMOZ haben sich überlebt. Mit modernen Suchmaschinen wie Google finde ich Informationen nach all jenen Kriterien auf, die mir relevant erscheinen. Es ist mir dabei vollkommen egal wo die Bits dabei physisch aktuell liegen (auf welchen Server, auf welcher Rille der Festplatte).

Obwohl diese neue Eigenschaft digitalisierter Information und allen intuitiv klar ist, sind wir trotzdem noch unserem alten Mindset verhaftet: Auch ich suche meine Dateien häufig immer noch indem ich mein selbst angelegtes hierarchisches Filesystem durchlaufe, statt auf meinem Rechner über Spotlight mit einem inhaltlichen Ausdruck die Datei direkt zu suchen. Als ich neulich davon las, dass die Washington Post schon vor Jahren darüber berichtete, dass die Telefongesellschaften als Internetprovider den Zugang zum Internet priorisieren wollen, habe ich zuerst (erfolglos) versucht den Artikel in den Archiven der Washington Post zu finden. Als ich dann einfach das ganze Zitat in Anführungszeichen in Google eingab, habe ich die Beitrag sofort gefunden.

Digitalisierte Information verhält sich eben ganz anders als wir es noch von physikalischen Objekten gewohnt sind:

  1. Alle Informationen sind gleich weit weg - Sie können mit einem einzigen Klick auf einem Hyperlink erreicht werden.
  2. Es ist egal wo die Information physisch liegt, es kann von überall zugegriffen werden.
  3. Die Zusammenstellung (Anordnung) der Information kann beliebig variiert werden und für jedem je nach seinem Geschmack und Gusto angeordnet werden.
  4. Statt vordefinierte Ordnungssysteme nach bestimmten trennscharfen Gesichtspunkten zu entwickeln, werden Informationen einfach in das weltweite Netz (WWW) geworfen und dann danach direkt gesucht.

As we invent new principles of organization that make sense in a world of knowledge freed from physical constraints, information doesn't just want to be free. It wants to be miscellaneous. (p.7)

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