Philosophische Überlegungen zum Musteransatz
Aus erkenntnistheoretischen Überlegungen habe ich bereits öfters in meinen Arbeiten auf den Begriff der Emergenz hingewiesen und versucht für die Didaktik von E-Learning nutzbar zu machen (siehe beispielsweise die referenzierten Artikel am Ende dieses Weblogeintrags). Gerade vor diesem epistemologisch motivierten Hintergrund interessieren mich (Entwurfs-)Muster (Design Pattern) so sehr. Mir scheint allerdings, dass dieser allgemeinere Zugang in der "Pattern Community" bisher nicht einmal ansatzweise diskutiert wird.
Emergenz und Muster
Den Zusammenhang zwischen beiden Begriffen sehe ich - vereinfacht gesagt - darin, dass die Elemente der "unteren" Ebene auf der "oberen" Ebene ein Muster bilden. Diese (neue) Organisationsform auf der höheren Ebene ist es, die für das Entstehen neuer Eigenschaften, Funktionen etc, also das was dann als emergentes Phänomen bezeichnet wird, verantwortlich ist.
Emergenztheorien wenden sich demgemäß gegen reduktionistische wissenschaftliche Ansätze. Unter Reduktionismus werden jene Lehrmeinungen verstanden, die davon ausgehen, dass die Phänomene der oberen Ebene alleine durch die Kenntnis des Eigenschaften der sie bildenden Bestandteile verstanden, erklärt, vorhergesagt etc. werden können. Hier sind Beispiele aus den Naturwissenschaften instruktiv (siehe zum Folgenden den Artikel in http://www.wasser.de/.
Die Elemente Wasserstoff (H) und Sauerstoff (O) bilden in einem bestimmten Mischungsverhältnis und Zusammenwirken Wasser (H20).
Weil Wasserstoff (positiv) und Sauerstoff (negativ) geladen sind, besitzt das Wassermolekül eine Polarität (plus). Da sich gleiche Ladungen abstoßen und unterschiedliche Ladungen anziehen, richten sich die Moleküle zu gewissen Mustern aus. Diese dreidimensionalen Anordnungen werden Cluster genannt. Diese Bindungen der Moleküle untereinander nennt man Wasserstoffbrückenbindung. Diese besondere Verbindungsmuster (Wasserstoffbrückenbindung) ist verantwortlich für gänzlich neue Eigenschaften wie Oberflächenspannung und den neuen flüssigen Aggregatzustand bei Raumtemperatur. Die Eigenschaft "flüssig" ist weder im Element Wasserstoff noch im Element Sauerstoff vorhanden.
Der obige verwendete Muster-Begriff stammt übrigens nicht von mir um mein Argument stärker zu machen, sondern findet sich im Originaltext des Artikels, den ich nur aus stilistischen Gründen etwas umformuliert habe.
Sieben philosophische Fragestellungen
Aus dem obigen - fast trivial anmutenden -Beispiel lassen sich einige interessante erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Fragestellungen generieren:
- Was ist unter Emergenz zu verstehen? Ist es die Unerklärbarkeit der Eigenschaften der "höheren", Ebene, der Wirkungen der "zusammengesetzten" Elemente? Oder ist es die Nicht-Reduzierbarkeit der auf der "höheren" Ebene feststellbaren Phänomene? Sind es bloß begriffliche (konzeptionelle) oder tatsächlich real vorkommende (ontologische) Neuheiten? Oder ist Emergenz - wie ich meine - alles das zusammen und gleichzeitig (Holismus)?
- Worauf beziehen sich emergente Phänomene? Auf Eigenschaften, Substanzen, Prozesse, Organisationsformen (Muster), Funktionen, Gesetze? (Ich vertrete hier - deshalb mein Interesse für die Entwurfsmuster – die Meinung, dass es vor allem um die Organisationsform geht. Der Spruch "Das Ganze ist mehr als seine Einzelteile" weist auf eine emergentes Phänomen hin, das nicht geisterhaft aus dem Nichts entsteht, sondern der spezifischen Organisationsform der Einzelteile verschuldet ist.
- Welchen Anwendungs- oder Geltungsbereich hat Emergenz? Sind emergente Phänomene selten, treten nur unter ganz besonderen Bedingungen und Umständen auf oder sind sie - wie ich meine - alltäglich? Weil unsere Welt auf den verschiedensten "Ebenen" immer aus zusammengesetzten Elementen besteht, die sich unter bestimmten Organisationsformen verbinden, Muster bilden, ist Emergenz "Immer und überall" zu finden.
- Ist Emergenz "objektiv" oder "subjektiv"? Ist Emergenz eine tatsächlich in der Außenwelt vorkommende ("objektive") Eigenschaft, oder erscheint sie nur als solche im Auge des Betrachters, der Beobachterin? Aus meiner Sicht ist die Eigenschaft "flüssig" selbstverständlich ein real vorkommendes Phänomen. Natürlich ist der Begriff "flüssig" unsere Wortschöpfung (Konstruktion) und natürlich erkennen wir Wasser niemals "an sich", sondern ist unsere Erfahrung (Empirie) durch Beobachtungen geprägt, die wir interpretieren. Trotzdem entspricht unserer Erfahrung – die wir durch Interaktionen mit unserer Außenwelt ständig "validieren" – ein außerhalb von unseren Köpfen stattfindendem Phänomen. Der Aggregatzustand "flüssig" ist zwar auch eine gedankliche Konstruktion - aber nicht nur!
- Ist Emergenz statisch und synchron oder dynamisch und diachron, oder beides? Ich meine, dass beides möglich ist. Das obige Wasserbeispiel belegt den synchronen Ansatz: Die neue (emergente) Eigenschaft flüssig zu sein, ist mit der vollzogenen Verbindung der Wasser- und Sauerstoffmoleküle sofort (gleichzeitig) vorhanden. Die Verbindung H2O ist flüssig. Oft entstehen aber erst nach einiger Zeit aus komplexen naturwissenschaftlich Prozessen neue Phänomene (vgl. die Literatur zur Chaostheorie.)
- Ist die Welt in Ebenen steigender Komplexität geschichtet? Aus meiner Sicht: Ja! Ich schließe mich hier der Theorie zur ontologischen Schichtung von Michael Polanyi an bzw. stimme Nicolai Hartmann zu, wenn er fundamental von Schichten des Realen ausgeht. Jede Schicht (Ebene) hat ihre Muster (Organisationsform) der Elemente und demnach auch die ihr entsprechende Beobachtungs bzw. Analysemethode für ein adäquates Beschreibungs - bzw. Erklärungsmodell.
- Auf welche Weise sind emergente Phänomene von den sie verursachenden Elementen autonom? Hier gibt es die unterschiedlichsten Ansätze, hier unterscheiden sich beispielsweise die Ansätze von Polanyi und Hartmann grundsätzlich. Das ist eine zwar sehr wichtige aber auch sehr komplizierte – und letztlich nur empirisch zu entscheidene Fragestellung. Ich habe dazu selbst keine eigene Auffassung und möchte zu einem späteren Zeitpunkt sowohl die Bedeutung der Fragestellung als auch einige Lösungsversuche darstellen.
So What?
Und was hat nun dieser ganze philosophische Klim-Bim – so werden sich einige Leser/-innen berechtigt fragen – eigentlich mit Pädagogik, Didaktik oder gar E-Learning zu tun? Ich habe versucht in einigen meiner Artikel dazu eine Antwort zu geben. So habe ich den Ansatz der Emergenz sowohl im Bereich der Lernobjekte als auch bei der Einführung des Begriffs Didaktisches Szenario angewendet (siehe Referenzen zu diesem Beitrag).
- Wenn ermergente Phänomene alltäglich sind, dass treffen sie eben auch auf die Didaktik zu.
- Wenn die Welt geschichtet ist, dann sind auch in der Didaktik Schichten zu unterscheiden (z.B Mikro- und Makrodidaktik).
Aus meiner Sicht werden leider diese philosophischen Implikationen des Muster-Ansatzes bisher viel zu wenig diskutiert. So wird beispielsweise häufig die Diskussion um pädagogisch/didaktische Entwurfsmuster mit ihrer Brauchbarkeit oder Unbrauchbarkeit (Trivialität) dominiert. Vgl. z.B. den Weblogeintrag bei Gabi Reinmann, aber ich meine mit dieser Kritik auch mich selbst (vgl. meinen Beitrag Kritik der didaktischen Entwurfsmuster).
Ich denke es ist wichtig für die weitere Diskussion, dass wir die Brauchbarkeit des Ansatzes nicht nur über die real existierenden Entwürfe und Muster beurteilen. Wenn ich damit scheitere einen Nagel in die Wand zu schlagen, dann muss dies nicht unbedingt am Werkzeug (den Hammer) oder am Nagel liegen. Vielleicht liegt es an mir, an meinen Versuchen, d.h. vielleicht habe ich den Nagel falsch eingeschlagen, d.h. den Hammer schlecht benutzt. Vielleicht aber habe ich auch eine ungeeignete Stelle in der Wand (oder gar eine falsche Oberfläche - "Ebene") für das Nageleinschlagen benutzt; vielleicht aber war auch der Nagel nur für diese Wand nicht geeignet.
Aus verschiedenen aktuellen Diskussionen, die zum Teil in den letzten Tagen mich über Mails erreichten, vermute ich folgendes: Wir wählen häufig (unbewusst) nicht immer die gleiche Schicht für Analyse- Beschreibung und Problemlösung, d.h. wir wechseln bei Analyse, Beschreibung bzw. beim Lösungsvorschlag die Ebenen. Dadurch werden die Vorschläge einerseits trivial (die Lösungsebene ist gegenüber der Problemebene zu "hoch") oder aber nicht überzeugend/nicht Neues produzierendes (die Problemebene ist "höher" als die Lösungsebene). Zu dieser These möchte ich später noch Genaueres auf diesen Seiten schreiben.
Categorization of Virtual Learning Activities
Größe: 1.3 kB - File type text/html
Unterrichtsmethoden als Handlungsmuster - Vorarbeiten zu einer didaktischen Taxonomie für E-Learning
Größe: 220.4 kB - File type application/pdf
Didaktische Arrangements und Lerninhalte
Größe: 812.4 kB - File type application/pdf
Re:Muster als emergentes Phänomen
Kommentar von Vohle, Frankam 17.03.2009 19:23
Lieber Peter,
das was du schreibst, ist sehr interessant. Ich lasse mal den Unter- oder Überbau weg (Verweise auf Polany und Hartmann) und schaue nur, was ich spannend finde, nämlich die Frage: „Mit welcher Q u a l i t ä t von Mustern haben wir es in der Didaktik zu tun? Ich sage deshalb Qualität, weil der Musterbegriff offenbar im wissenschaftlichen Diskurs die „Ebenenproblematik“ nur unzureichend berücksichtigt und es deshalb zu Kategoriefehlern kommt (Analyse-, Beschreibungs- und Lösungsebene). Der Begriff des Musters (Pattern) hilf also ohne Zusatzerläuterung nicht so viel, weil j e d e s Erkennen in den Disziplinen Musterbildung ist.
Mit dem Begriff der Emergenz zeigst du meines Erachtens auf etwas Wichtiges, nämlich, dass das Neue aus dem räumlich-zeitlichen Zusammenspiel (Konfiguration) von Elementen-(Eigenschaften) „auf einer höheren Ebene“ entsteht, das Neue also „zwischen“ den Elementen und im Prozessieren „steckt“ – dein Beispiel mit der Wasserstoffbrückenbindung wäre ein (statisches) Beispiel, ein dynamisches wäre eine Lehrer-Schüler-Situation.
Das (erkenntnistheoretische) Problem ist nun, dass das Neue einerseits in seinem statischen Ausgangszustand (Design) nicht oder nur virtuell enthalten ist, und andererseits kann man es in seinem dynamischen Zielzustand (situative Konfiguration) schwer erkennen/analysieren. Jeder der sich schon einmal mit dem Spiel (als kulturelles Phänomen) beschäftigt hat, wird das wissen. Bezogen auf die Didaktik gilt Analoges: Zwar können wir die Elemente und (analytischen) Schichtungen beim Lehren und Lernen benennen, aber wir haben noch wenig Ahnung von dem sinnvollen, d.h sinnstiftenden, funktionalen, stabilen Zusammenspiel von didaktischen Elementen über die Zeit und im Raum.
Und hier kommt (wieder) ein neuer Begriff ins Spiel, den wir in Augsburg gern verwenden, nämlich den der Kohärenz (Gabi hat in ihrem Lehrbuch 05 darauf verwiesen, wir haben aber auch im Zusammenhang mit dem Analogietraining davon gesprochen). Ich habe bisher die Metapher des „Zusammenspiels“ verwendet, um diese besondere, weil dynamische! Interaktionsqualität zu beschreiben. Nimmt man den Kohärenzbegriff zu Hilfe, dann wird damit (a) auf die Korrelationseigenschaft (von didaktischen Elementen) verwiesen und (b) auf die besonderen Bedingungen, die zwischen den Elementen vorliegen müssen, nämlich „Phasengleichheit“ oder weniger physikalisch, dynamische „Passung“, also „Stimmigkeit“ im Prozess.
Man merkt an der Häufigkeit der Anführungszeichen, dass ich mich von der Metapher zum unbestimmten Begriff rette, also vage bleibe. Mir ist noch nicht klar, wo man sich mehr Anregung holen kann: (a) in der Physik, wo dieser Begriff schon ausgearbeitet ist http://de.wikipedia.org/wiki/Koh%C3%A4renz_(Physik), kritisch hier: http://209.85.129.132/search?q=cache:b0fID9Cqi58J:www.physikdidaktik.uni-karlsruhe.de/altlast/57.pdf+koh%C3%A4renz&cd=9&hl=de&ct=clnk&gl=de&client=firefox-a (Problem der Rückübersetzungsproblem) oder (b) in der Linguistik http://www.fb10.uni-bremen.de/khwagner/lektuerekurs/textwiss/kohaerenz.htm, wo man sehr eng am Textverstehen arbeitet ohne höhere Organsiationsebenen zu betrachten oder (c) z.B. bei Lissack, der Kohärenz als Lösungspfad in Zusammenhang mit Komplexität empfiehlt (The next common sence – Lissack/Roos - 2000).
Nach meinen Anmerkungen bin ich mir nicht sicher (schon wieder nicht), was eine Muster-, Emergenz- oder Kohärenzdiskussion „bringen“ soll. Du schreibst sieben philosophische Fragestellungen auf, alle klingen reizvoll. Nur: hat man am Ende wirklich mehr Klärung oder wie du anderswo schreibst eine "einfachere Fragestellung"? Handelt man sich durch die Übernahme (Analogie!) von meist naturwissenschaftlichen Begriffen (hier taugen sie ja was) in den sozialen und vor allem psychologisch-pädagogischen Kontext nicht viele Probleme ein? Das ist kein Plädyer für Trivialitäten, sondern ich frage mich, ob uns diese „Brillen“ aus Architektur (Muster, Entwürfe), Physik (Emergenz), Chemie (dissipitative Struktur, Fluktuation) etc. – so spannend dies alles ist - nicht mehr die Sicht verstellen, als dass sie uns helfen, besseren Unterricht zu machen.
Grüße aus WOR, Frank
Muster, Emergenz, Kohärenz: Wozu der ganze Kram?
Kommentar von baumgartneram 19.03.2009 18:09
Hallo Frank,
Dein letzter Absatz ist natürlich DIE große Herausforderung: Wozu der ganze begriffliche Aufwand? Wozu die Vergleiche und Analogien mit den (Natur-) Wissenschaften, wenn es um uns um Pädagogik/Didaktik, um die Qualität des Lehrens und Lernens geht?
Ich versuche dazu demnächst (m)eine Antwort in einem weiteren Weblogeintrag zu geben.
Peter