In seinem (bisher) letzten Kommentar schreibt Helmut Leitner:
Mein Postulat ist, dass die 15 Eigenschaften - das ist vermutlich ein unerwarteter Paukenschlag, der heftige Diskussionen auslösen kann - Formkategorien sind, dass sie also unserem kognitiven Apparat angeboren sind und deswegen Resonanz auslösen.
Ich persönlich finde das gar nicht für einen "unerwarteten Paukenschlag".
- Dass diese 15 Struktureigenschaften nach Alexander als Formkategorien zu verstehen sind, ist uns auch bei der gestrigen Forschungswerkstatt klar geworden.
- Wenn diese 15 Eigenschaften – wie Alexander das meint – intersubjektiv, also "objektiv" in den Aussagen/Gefühlen der befragten Menschen zu messen sind, dann müssen sie sich in unserem Bewusstsein niederschlagen - sonst könnten sie sich nicht in den Befragungen zeigen. Entweder sind eine reine "Erfindung" (selbständige Produktion, Konstruktion) – unseres kognitiven Apparates oder sie werden durch die Wahrnehmung von Objekten/Artefakten in unserem Gehirn induziert und damit ebenfalls – diesmal durch die Außenwelt angestoßen – produziert bzw. konstruiert.
Das ist nicht nur eine Position, die ich stimmig finde, sondern die ich sogar selbst teile. Obwohl vielleicht die 15 Eigenschaften bei Alexander, nicht das letzte Wort sind, es hier mehr, oder andere auch geben mag.
Hier dürften sich aber unsere Haltung (Helmut Leitner, Peter Baumgartner) von der Position von Christian Kohls unterscheiden. (Stimmt das, Christian?)
PS.: Ich habe mir erlaubt die schönen Bilder von Helmut, auf die er in seinem letzten Kommentar verweist, hier in meinem Weblog anzufügen. - Ich hoffe, dass dies ok für Dich ist, Helmut. Sonst kurze Mail schicken!
Re:15 Eigenschaften als Formkategorien?
Kommentar von chrisimweb am 27.04.2009 01:07
Nachdem ich mich jetzt etwas intensiver mit den 15 Eigenschaften auseinandergesetzt habe, halte ich sie immer mehr für Form oder Gestalt gebende Eigenschaften. Alexander schreibt selbst in „The Nature of Order“, dass das Konzept der Wholeness auf die Gestalttheorie zurückgeht. Er behauptet, dass er sie weiter entwickelt hat, führt aber nicht an wie und begründet auch nicht warum bestimmte Gesetzte nicht einbezogen worden sind. Problematisch ist weiterhin, dass allein visuelle Gestalten im geometrischen Raum fokussiert werden. Soziale und dynamische Gestalten (ebenfalls erfahrbare Formen) klammert Alexander aus. Seine in den Experimenten verwendeten Bilder zeigen statische Abbildungen und stehen eigentlich im Widerspruch zu der von ihm angestrebten ganzheitlichen Sicht, wie auch von den Teilnehmern der Forschungswerkstatt angemerkt wurde. Ich erinnere mich, dass ich für den GMW-Vortrag letztes Jahr hässliche Hochhäuser bei flickr gesucht habe – und nicht fündig geworden bin, weil die Häuser oft fotografisch so in Szene gesetzt sind (z.B. mit reflektierendem Sonnenuntergang), dass selbst der einfallsloseste Plattenbau erhaben aussah.
Eine interessante Frage, die mich seit der Forschungswerkstatt umtreibt, ist, ob es die Maximierung wahrgenommener Gestalten oder nur die Harmonie der Gestalten ist, die Artefakte lebendig aussehen lässt. Eine Gestalt oder Form kann man auch als einen Attraktor auffassen. Attraktoren, die einander nicht stören (wo also eine Form nicht der anderen Form die Attraktivität stiehlt - wie etwa bei Kippbildern) sondern unterstützen, intensivieren die Gesamtattraktivität, da man mehr attraktive Formen gleichzeitig wahrnimmt. Wiederkehrende Formen (zu finden in den Struktureigenschaften Alternating Repetition, Local Symmetries, Contrast, Gradients, Echos) klauen sich dabei nicht gegenseitig die Attraktivität, da man sich bei den wiederkehrenden Elementen nicht vollständig neu orientieren muss. Banale Wiederholungen ohne leichte Varianzen sind dagegen langweilig und überhaupt nicht mehr stimulierend. Es scheint als müsste sich Bekanntes mit leichter Variation mischen, um attraktiv zu wirken. Klingt für mich ziemlich nach einem Muster: wiederkehrende Struktur auf abstrahierter Ebene, Varianz und Anpassung auf konkreter Ebene.
So weit so gut. Doch warum findet man unter den 15 Eigenschaften nicht die für die Figur-Grund-Wahrnehmung so wichtigen Faktoren wie Nähe, gleiche Orientierung, gute Fortsetzung, Verbundenheit usw. Mit ist sehr suspekt, dass diese „Gesetzmäßigkeiten“ (in Gänsefüßchen, da es keine echten und immer gültigen Gesetze sind) unbegründet unter den Tisch fallen. Übrigens gibt es einen guten (natürlich wieder nur nach meinem Urteil 😉 Einführungstext zu Gestaltgesetzen bei e-teaching.org: http://www.e-teaching.org/didaktik/gestaltung/visualisierung/gestaltgesetze/
In dem Text haben wir versucht, die Darstellung der Gestaltgesetze aus verschiedenen Literaturquellen in Einklang zu bringen.
Was mir bei den 15 Eigenschaften an erster Stelle fehlt ist das Prinzip der Bedeutung und Vertrautheit. Dies ist keine Kleinigkeit, handelt es sich doch dabei um „Echos der Vergangenheit“, um in Alexanders Terminologie der Echos zu bleiben. Echos der Vergangenheit sind nichts anderes als das Widererkennen vertrauter Formen und Strukturen. Daher bin ich auch überzeugt davon, dass die mentale Repräsentation von Patterns nichts anderes als Schemata sind. Die Schema-Theorie ist im Prinzip nichts anderes als eine allgemeine, nicht auf visuelle Strukturen beschränkte, Version der Gestalttheorie. Ich gehe davon aus, dass Schemata wie von Piaget beschrieben durch Assimilation und Akkommodation aufgebaut werden und schließlich zu äquilibrierten und einigermaßen stabilen Gedächtnisstrukturen führen. Wie diese mentalen Gestalträume sich einpendeln hängt aber davon ab, welche Objektbeispiele ich aus der Erfahrung kenne. Eine gute Unterrichtsstunde wird sprachlich auch als „ideale Unterrichtsstunde“ bezeichnet. Damit wird gemeint, dass die Stunde dem Ideal besonders nah kommt. Bei Alexander (wie übrigens auch bei Kant) scheinen diese Ideale oder Ur-Formen a priori gegeben zu sein. Aus Piagets konstruktivistischer Sicht werden diese aber individuell konstruiert, d.h. Individuen können unterschiedliche Ideale haben. Mir scheint diese Sicht plausibler angesichts unterschiedlicher Wahrnehmungen. Nicht nur, dass z.B. Keynotes oder Theateraufführungen unterschiedlich bewertet werden (und dort neben Geschmack auch Vorwissen, Einordnung und Bedeutsamkeit eine Rolle spielen – wenn ich die Keynote nicht verstehe, dann finde ich sie kaum anregend). Nein, die Formen selbst werden auch unterschiedlich konstruiert und nicht immer gleich bezeichnet. Wenn man sagt: „Das war doch keine Keynote“ oder „Das war kein Theaterstück“, dann meint man damit oft nicht nur, dass es sich um ein schlechtes Exemplar einer Klasse handelt, sondern um eine ganz andere Klasse an sich: „Das war eher eine Vorlesung und keine Keynote“, „das war eher ein Musical und kein Theaterstück“.
Unter dem Gesichtspunkt der Gestaltwahrnehmung werden für mich die 15 Eigenschaft interessant, denn genau darum geht es ja: um die Wahrnehmung von Formen/Gestalten. Ein Muster ist nichts anderes als eine Form, eine zusammenhängende strukturelle Ausprägung (ein starkes Zentrum). Wiederkehrende Formen sind dabei die interessanten Muster, da wir aus der Redundanz in den Strukturen nicht nur lernen sondern Erkenntnis und Wissen schöpfen können. Insofern habe ich nichts gegen die 15 Eigenschaften wenn diese das Profil einer Gestalt schärfen und damit die Aufmerksamkeit auf sich ziehen kann (to attract). Diese Profilierung macht die Gestalt auch attraktiver, ich zitiere aus der Wikipedia:
„Attraktivität (lat. ad- = "an" + -trahere, PPP -tractum = "ziehen") ist die von einem Objekt ausgehende Anziehungskraft. Sie kann sowohl auf äußerlichen Eigenschaften (Schönheit) als auch auf Wesenseigenschaften (Charakter, Geist, Charisma, soziale Stellung, materieller Wert) beruhen und individuell unterschiedlich zu bewerten sein. Je angenehmer oder vorteilhafter etwas eingeschätzt wird, desto attraktiver wirkt es.“
Alexander vergleicht seine Zentren übrigens an einer Stelle mit Attraktoren (aber ich muss noch nachschlagen, ob er den Vergleich für angemessen hält).
Wenn man Attraktivität als Anziehungskraft auffasst, dann muss angemerkt werden, dass es auch negative Attraktivität gibt: z.B. ziehen auch Katastrophen oder Gefahren unsere Aufmerksamkeit auf sich. Das Erkennen wohlgeformter Gestalten impliziert für mich keine ethisch anzustrebende Werte. Auch Waffen können sehr attraktiv sein. Bei Alexander findet man sogar ein paar Beispiele solcher negativen Attraktivität: Gebäude in den Slums oder traurige Menschen am Straßenrand werden als Beispiele für Lebendigkeit dargestellt. Tatsächlich wirken diese Bilder (auf mich) irgendwie lebendig, aber auch traurig. Natürlich gehört auch Trauer zum Leben, aber ist dies ein Gestaltungsziel? Vielleicht wenn man Betroffenheit erzeugen möchte. Doch Betroffenheit ist etwas anderes als Betroffensein.
Wenn Lebendigkeit allein aber noch nicht zwischen gut und schlecht, positiv und negativ unterscheidet, dann kann dies nicht das einzige Gestaltungsziel sein. Denn das Gute leitet sich dann nicht automatisch aus der Lebendigkeit ab.
Für mich geht es nicht nur um gute Formen, sondern auch um gute Funktionen und ein gutes Gefühl (und zwar nicht nur für den Betrachter von Bildern, sondern auch für die Menschen, deren Situation betrachtet wird).
Alexander reduziert sich in „The Nature of Order“ allein auf gute Formen (intensive Zentren) und behauptet, dass diese gleichzeitig funktional und lebendig sind. Ich denke aber, wir müssen den Raumbegriff nicht nur vom geometrischen auf den zeitlichen sondern auch auf den funktionalen und ästhetischen Raum ausweiten. Materielle und zeitliche Ausbreitung sind hier nur die ersten vier Dimensionen eines Gestaltungs-Raumes. Die funktionalen Dimensionen hängen stark von der jeweiligen Fachdisziplin ab. Ich fand die 12 pädagogischen Dimensionen, die Du auf der Forschungswerkstatt vorgestellt hast, für die Beschreibung von Formen im multidimensionalen pädagogischen Raum eigentlich sehr gut und hätte diese gerne weiterdiskutiert (der einzige Wermutstropfen der Werkstatt war, dass sie so schnell vorüber ging – andererseits ist mein Kopf auch so am brummen :). Die Frage ist, ob die Eigenschaften, die in der materiellen Geometrie zu einer Formstärkung führen, auch in den pädagogischen Dimensionen zu einer Profilierung und damit zu einer steigenden Attraktivität führen.
Je mehr ich drüber nachdenke: „Attraktivität“ gefällt mir inzwischen besser als „Lebendigkeit“, aber da würde ich Alexander wohl fehl interpretieren. Er meint ja wirklich das Lebende und nicht nur das Lebendige. Übrigens finde ich auch die Begriffe Vollkommenheit und formvollendet in diesem Zusammenhang ganz interessant.
Liebe Grüße,
Christian
Re:15 Eigenschaften als Formkategorien?
Kommentar von HelmutLeitner am 28.04.2009 09:10
Peter, natürlich ist es mir Recht ... bzw. danke, dass du die Bilder so sichtbar untergebracht hast. Ich wusste nicht, wie das Kommentarfenster auf Urls reagiert bzw. konnte das selbst nicht so schön.
Christian, ich kann vieles von deinen Gedanken und Argumenten nachvollziehen. Die Gestalttheorien waren natürlich auf meinem Radarschirm, nicht nur weil Alexander hie und da darauf verweist, und ich wollte ursprünglich einen Abschnitt im Kapitel "Anschlussmöglichkeiten" dazu schreiben. Auf Grund der Schwierigkeiten, die ich damit hatte - trotz Recherchen und kompetenter Diskussionsmöglichkeit mit der Gestalttherapeutin Liselotte Nausner - hat sich das dann auf ein Wertheimer-Zitat reduziert.
Natürlich glaube ich, dass eine Integration der Mustertheorie und der Gestalttheorie notwendig und möglich ist. Ich denke überhaupt, dass Alexander ein integratives Denken über weite Bereiche der Geisteswissenschaften ermöglichen würde, wenn bestimmte Voraussetzungen geschaffen werden. Ich habe versucht, dazu erste Schritte zu gehen, durch eine Andeutung von Anschlussmöglichkeiten und vor allem durch eine weitgehend entdogmatisierte Darstellung Alexanders. Also: nicht Seinsontologie, sondern anschlussfähiges Modell mit möglichst neutraler systemtheoretische Ausrichtung. Die Integrationsarbeit muss allerdings erst geleistet werden. Alexander hat sich in seinen Schützengräben im Kampf gegen die postmoderne Architektur eingegraben und andere Gebiete unbearbeitet gelassen. Meiner Meinung nach ein strategischer Fehler. Wenn sich Alexander durchsetzen sollte, dann wahrscheinlich auf Grund der Erfolge seinen Denkens außerhalb der Architektur.
Um auf die Gestalttheorie(n) zurückzukommen: Mir scheint sie viel zu sehr am Phänomenologischen zu hängen. Natürlich ist es faszinierend, unserem kognitiven Apparat auf die Finger zu sehen, seine Meisterleistungen und Fehlleistungen aufzuzeigen. Es kann uns selbstkritischer machen, aber auch bei bestimmten gestalterischen Anordnungen helfen. Aber die Konzeptionen scheinen mir fast noch stärker als Alexander auf das geometrische und optische fokussiert zu sein. Ein Nachbarschaftsprinzip ergibt sich bei Alexander funktional: Es ist eine Frage der Ökonomie, dass Interagierendes benachbart plaziert wird, dass Benachbartes und Interagierendes zunehmend als Einheit begriffen wird (Familie, Team, Klasse).
Dem Einsatz des Begriffes "Attraktivität" stehe ich eher skeptisch gegenüber. Nicht, weil er nicht in vielen Situationen anschaulich wäre, sondern weil es gefährlich ist zu meinen, ein Alltagsbegriff könne das transportieren, was Alexander an ontologischer Entität hinter "quality without a name" im Nebel der Erkenntnis wahrzunehmen beginnt und uns vermittelt. "Lebendigkeit" ist, abgelöst von einer rein biologischen Bedeutung, ein hinlänglich diffuser und schwach benutzter Begriff, der sich eignet mit diesem Bedeutungsinhalt gefüllt zu werden, ohne sofort in missverständliche Vereinfachungen zu kommen. Dass sich, von Fall zu Fall Begriffe wie "Schönheit" oder "Attraktivität" zur Erklärung oder Umschreibung eignen mögen, gestehe ich aber natürlich zu.
Herzliche Grüße,
Helmut
Re:15 Eigenschaften als Formkategorien?
Kommentar von HelmutLeitner am 29.04.2009 15:18
Das gravierendere Argument gegen "Attraktivität" ist aber vermutlich seine mittransportiert antropozentrierte Perspektive. Man kann kaum von Attraktivität sprechen, wenn es nicht menschliche Beonachter gibt, die diese Attraktivität wahrnehmen.
Bei "Lebendigkeit" gibt es diese Problem nicht. Man kann eine durch Dichte und Intensität von Zentren verursachte Lebendigkeit auch verstehen, ohne dass dabei Beobachter notwendig sind. Das ist Alexandersches Weltbild: Ein Universum/Raum, der sich schon in Richtung auf eine geordnete Komplexität entfaltet, unabhängig von und lange bevor es biologisches Leben oder Menschen gibt.
Re:15 Eigenschaften als Formkategorien?
Kommentar von chrisimweb am 07.05.2009 12:18
Hallo Helmut,
sorry für die verspätete Antwort. Mir gefällt am Attraktivitätsbegriff, den ich nicht alltagssprachlicher als Lebendigkeit empfinde, gerade die subjektive Komponente! Dass „Lebendigkeit“ ein objektiver Begriff ist, bezweifle ich nach wie vor. Allein seine Bedeutung wird von Alexander re-definiert, denn das von ihm beschriebene „lebendige“ hat nicht alle wesentlichen Eigenschaften des Lebens-Begriffs aus der Biologie. Das was man allgemein unter „Leben“ oder „Lebendigkeit“ versteht ist nicht das was Alexander beschreibt, auch wenn er dies meint. Z.B. schreibt er seinen Experimentalbildern unterschiedliche Lebendigkeitsgrade zu. Doch wie sollen sich diese Bilder fortpflanzen oder am Stoffwechsel teilnehmen? Vielleicht kann sich ein Design evolutionär weiterentwickeln und vielleicht kann man das Ökosystems eines Artefakts als Stoffwechsel betrachten – aber hier zeigt sich schon ein eingeschränktes philosophisches Verständnis, da nicht zwischen Abbildung, Abgebildeten und Modell (um nicht Ur-Bild oder Idee zu sagen) unterschieden wird. Die typische Bedeutung des Lebens-Begriffs trägt also nicht ganz, zudem gibt es in den Lebenswissenschaften selbst unterschiedliche Definitionen des Begriffs, so dass bereits seine Bedeutung stets kontextabhängig (und nicht allein objektabhängig) ist.
Doch nehmen wir einmal an, dass wir den Alexandrischen Lebensbegriff als eindeutig definiert voraussetzen und dass hierzu u.a. die 15+/- Lebendigkeitseigenschaften und ihre strukturerhaltenden Entfaltungen zur Operationalisierung verwendet werden können. Dann ergibt sich daraus für mich noch immer nicht, dass der dadurch definierte Lebendigkeitsgrad intersubjektiv empfunden wird. Ich lasse mich aber gerne vom Gegenteil überzeugen wenn man mir folgende drei einfache Fragen schlüssig beantwortet:
1. Wie erklären sich intersubjektive Urteilsunterschiede hinsichtlich der Lebendigkeit?
Beispielhaft müsste beantwortet werden: Warum empfinden manche Hörer Volksmusik als lebendig und andere nicht? Warum empfinden Zuhörergruppen einen Vortrag oder einen Krimi als lebendig oder nicht?
2. Wenn die Lebendigkeit eine algorithmisch berechenbare Größe ohne Wertung des Gegenständlichen ist, worin besteht dann der Nutzen dieses Wertes? Oder anders: was nützt es lebendige Schlachtfelder, lebendige elektrische Stühle, lebendige Giftmülldeponien, lebendige Foltermethoden zu haben? Das ist nicht zynisch gemeint, sondern verdeutlicht, dass die von Alexander definierte Lebendigkeit auf Funktionalitäten und auf normative, gesellschaftlich verhandelte Werte keine Rücksicht mehr nimmt, da es nur die eine Wahrheit gibt. Er hält z.B. die Interessen von Ökogruppen für irrelevant, weil es eben nur auf die Lebendigkeit ankommt. Für mich ist aber „gutes“ Design wichtiger als „lebendiges“. Vielleicht ist gutes Design immer lebendig, aber lebendiges ist nicht immer gut.
3. Wie kommt es, dass für die durchaus testbare Hypothese objektiver Lebendigkeitsgrad nicht ein einziger empirischer Beleg erbracht wurde?
Zu 3: Die von Alexander durchgeführten Experimente, belegen genau dies nicht! Und damit meine ich nicht, dass seine Experimente in der Durchführung methodisch sehr fragwürdig sind (keine Standardisierung, keine Randomisierung, kein echter Paarvergleich, keine zufällige Stichprobe), sondern dass es ein grundsätzlicheres Problem gibt. Nehmen wir an, seine Experimente sind lupenrein durchgeführt worden, welche Aussagen lassen sie zu?
Die Aussagen:
a) Alle Objekte besitzen einen objektiven Lebendigkeitsgrad.
b) Alle Objekte besitzen einen Lebendigkeitsgrad, der zu einem hohen Grad von unterschiedlichen Individuen gleich/ähnlich empfunden wird.
c) Es gibt Objekte, die besitzen einen Lebendigkeitsgrad, der zu einem hohen Grad von unterschiedlichen Individuen gleich/ähnlich empfunden wird.
sind offensichtlich nicht bedeutungsgleich. Alexanders Experimente belegen nur c.), er behauptet aber, dass a.) gilt.
Warum lässt sich a.) nicht aus seinen Experimenten ableiten? a.) wäre nur gültig, wenn 100% der Probanden gleich empfinden würden. 80/90% erscheint zunächst hoch. Aber 10/20%, die eine andere Auffassung der Lebendigkeit haben, können nicht einfach unter den Tisch fallen. Alexander behauptet, diese 10/20% hätten sich geirrt; doch dann hätte man sich das ganze Experiment sparen könnten, da die Hypothese zur Tautologie wird („Die Probanden erkennen die Lebendigkeit ODER sie erkennen sie nicht und irren sich.“ ist immer wahr.)
b.) scheint auf den ersten Blick durch die Experimente belegt. Doch Alexander nutzt hier einen Trick, er verwendet nämlich für seine Experimente Objekte mit hoher intersubjektiver Übereinstimmung bei der Beurteilung. Dass es solche Objekte geben kann wird aber auch durch c.) nicht ausgeschlossen. Der Punkt ist, dass es auch Objekte geben kann (und die Alltagserfahrung zeigt dies), wo eine hohe Übereinstimmung nicht gegeben ist. b.) behauptet, dass es solche Objekte nicht gibt, doch die Experimente belegen dies nicht.
Der Grund für die fehlende Objektivierbarkeit liegt meiner Ansicht nach darin, dass den Lebendigkeitseigenschaften jede Erfahrungskomponente fehlt. Dies macht die Eigenschaften nicht hinfällig, aber eben unvollständig. Subjektive Lebendigkeitseigenschaften werden unbegründet ausgeschlossen. Bilder und Eindrücke können jedoch zusätzlich an Lebendigkeit (oder Attraktivität) gewinnen wenn sie uns vertraut erscheinen oder wir zusätzliche Informationen über sie haben. Die Lebendigkeit eines Programmcodes erschließt sich nur dem Programmierer. Die Lebendigkeit eines Romans erschließt sich nur dem, der den Inhalt versteht und interpretieren kann. (Übrigens: an meinen Beispielen sieht man bereits, dass ich auch flüchtige Ordnungen als Teilausschnitte der Welt und daher als beobachtbare Objekte betrachte – dies gilt auch für Ohrfeigen, die ich allerdings nicht als „gute“ Lösungen betrachten würde. Hier sieht man wie sehr die Beurteilung vom Zeitgeist abhängen kann: man sprach auch mal von der „gesunden“ Tracht Prügel. Ich will damit keine Stellung nehmen, wann und ob Ohrfeigen angemessen sein können, sondern nur darauf hinweisen, dass gesellschaftliche Weiterentwicklungen und auch wiss. Erkenntnisse die Beurteilung verändern können.)
Zur Gestalttheorie: Ich bin zwar kein Experte in Sachen „Gestalttherapie“, doch so weit ich weiß, baut diese zwar auf der Gestalttheorie auf hat aber sehr viele eigene Konzepte, die mit der kognitiven Gestaltwahrnehmung (Gegenstand der Kognitionspsychologie) nicht mehr viel zu tun haben. Die Gestalttherapie ist also nicht von Bedeutung für die Gestaltwahrnehmung (umgekehrt aber schon).
Der Begriff „Patterns“ wird teils auch für die Gestaltgesetze verwendet – ein Hinweis darauf, dass wohlgeformte Muster nichts anderes als Gestalten sind, deren abstrakte (auch mentale) Repräsentation Schemata sind. Zwar spricht man bei nicht visuellen Einheiten meist nicht von Gestalten, durchaus aber von der Gestaltung (dem Design) dieser Formen, z.B. eines Musikstücks oder eines Unterrichts.
Die grundlegende Frage dabei ist: wann erkennen wir etwas als eine vollkommene, zusammenhängende Einheit? Hier gibt es kognitive Abhängigkeiten auch von vergangenen Erlebnissen. Algorithmisch kommt man da nicht sehr viel weiter, da unterschiedliche Verfahren unterschiedliche Einheiten clustern, also nicht objektiver sind, da die Verfahren und nicht die Gegenstände das Ergebnis bestimmten.
LG,
Christian
Re:15 Eigenschaften als Formkategorien?
Kommentar von HelmutLeitner am 07.05.2009 18:03
Lieber Christian, ich versuchs mal - auf Grund der Vielfalt der Fragen - mit gequotetem Text. Mal schauen, wie der Blog darauf reagiert...
> sorry für die verspätete Antwort. Mir gefällt am
> Attraktivitätsbegriff, den ich nicht alltagssprachlicher als
> Lebendigkeit empfinde, gerade die subjektive Komponente!
Ich habe nichts gegen "Attraktivität" als Begriff. Aber mit Alexander hat das dann nichts mehr zu tun, er scheint mir als Ersatzbegriff nicht tauglich. Wenn ich von der Attraktivität einer Frau (ihrer Lebendigkeit im Sinne Alexanders) sprechen würde, dann würde man mich 100% missverstanden.
> Dass „Lebendigkeit“ ein objektiver Begriff ist, bezweifle
> ich nach wie vor.
Das ist aber eine andere Diskussion. Viele Philosophen bezweifeln ja generell, dass es so etwas wie Objektivität oder Wahrheit geben könne.
Ich wollte nicht primär behaupten, dass der Begriff objektiv ist, sondern dass er als rein im Objekt verwurzelt verstanden werden kann bzw. von Alexander so verstanden wird. Bei Attraktivität ist das nicht möglich, daher ist der Begriff - im Sinne Alexanders - kein guter Ersatzbegriff.
> Allein seine Bedeutung wird von Alexander
> re-definiert, denn das von ihm beschriebene „lebendige“ hat
> nicht alle wesentlichen Eigenschaften des Lebens-Begriffs
> aus der Biologie. Das was man allgemein unter „Leben“ oder
> „Lebendigkeit“ versteht ist nicht das was Alexander
> beschreibt, auch wenn er dies meint. Z.B. schreibt er seinen
> Experimentalbildern unterschiedliche Lebendigkeitsgrade zu.
> Doch wie sollen sich diese Bilder fortpflanzen oder am
> Stoffwechsel teilnehmen?
Da kämpft du gegen Windmühlen, denn niemand behauptet, dass die Alexandersche Lebendigkeit die biologische Lebendigkeit meint.
Das dokumentiert nur das Problem, ein Phänomen vor sich zu haben, dem ein Namen gegeben werden muss. Früher wurde "Quality without a name gesagt",
was auch keine Ideallösung ist.
> Vielleicht kann sich ein Design
> evolutionär weiterentwickeln und vielleicht kann man das
> Ökosystems eines Artefakts als Stoffwechsel betrachten –
> aber hier zeigt sich schon ein eingeschränktes
> philosophisches Verständnis,
Wenn, dann schon: unvollständige Ausarbeitung einer Theorie.
Wirfst du auch Newton vor, dass er nur ein eingeschränktes Verständnis der Physik gehabt hätte? Forschung ist immer unabgeschlossen.
> da nicht zwischen Abbildung,
> Abgebildeten und Modell (um nicht Ur-Bild oder Idee zu
> sagen) unterschieden wird.
Man kann z. B. begrifflich zwischen Muster und Musterexemplar unterscheiden.
Ich verstehe die Mustertheorie als ein Modell für bestimmte Systeme, die sich indeterministisch entfalten.
> Die typische Bedeutung des
> Lebens-Begriffs trägt also nicht ganz, zudem gibt es in den
> Lebenswissenschaften selbst unterschiedliche Definitionen
> des Begriffs, so dass bereits seine Bedeutung stets
> kontextabhängig (und nicht allein objektabhängig) ist.
Wie gesagt, es geht um Lebendigkeit (als Fachbegriff im Sinne Alexanders), die nicht identisch ist mit der umgangssprachlichen biologischen Lebendigkeit.
> Doch nehmen wir einmal an, dass wir den Alexandrischen
> Lebensbegriff als eindeutig definiert voraussetzen und dass
> hierzu u.a. die 15+/- Lebendigkeitseigenschaften und ihre
> strukturerhaltenden Entfaltungen zur Operationalisierung
> verwendet werden können.
Vermutlich kann man das nicht.
> Dann ergibt sich daraus für mich
> noch immer nicht, dass der dadurch definierte
> Lebendigkeitsgrad intersubjektiv empfunden wird.
Natürlich nicht. Dann wäre ja der Mensch ein perfekter Sensor für eine Eigenschaft. Menschen sind auch keine perfekten Erinnerer, Seher oder Musikhörer.
Trotzdem sind etwa Tonhöhen oder Harmonien etwas Objektives.
> Ich lasse
> mich aber gerne vom Gegenteil überzeugen wenn man mir
> folgende drei einfache Fragen schlüssig beantwortet:
Warum gerade diese drei Fragen? Sie scheinen mit nicht in einem nachvollziehbaren Begründungszusammenhang zu einer objektiven Lebendigkeit zu stehen.
Physiker halten das Gewicht für eine objektive Objekteigenschaft. Menschen werden sich aber - ohne Hilfsmittel - einigermaßen über relative Gewichte einig sein, kaum aber über eine absolute Gewichtsangabe. Der Gewichtsvergleich von unterschiedlichen Objektarten (1 kg Federn gegenüber 1 kg Goldbarren) ist auch schwerer als zwischen ähnlichen Objektarten (2 Barren aus unterschiedlichen Metallen).
Auch ein Volksmusikverächter kann im Urteil zwischen zwei Volksmusikstücken die gleiche Bevorzugung treffen wie ein Volksmusikliebhaber.
> 1. Wie erklären sich intersubjektive Urteilsunterschiede
> hinsichtlich der Lebendigkeit? Beispielhaft müsste
> beantwortet werden: Warum empfinden manche Hörer Volksmusik
> als lebendig und andere nicht?
Das ist fiktiv. Die Frage "ist das lebendig" ist falsch gestellt (Lebendigkeit ist keine ja-nein-Eigenschaft) und nicht intuitiv verständlich. Der so Befragte kann diese Frage gar nicht so verstehen,
dass seine Antwort aussagekräftig wäre.
> Warum empfinden
> Zuhörergruppen einen Vortrag oder einen Krimi als lebendig
> oder nicht?
Sie werden sich hochgradig einig sein, welcher von zwei Krimis "besser" oder "spannender" oder "lebensnäher" ist. Vielleicht sind sie sich auch
darüber einig, welcher mehr mit ihrem Leben zu tun hat, welcher sie
mehr "berührt".
> 2. Wenn die Lebendigkeit eine algorithmisch berechenbare
> Größe ohne Wertung des Gegenständlichen ist, worin besteht
> dann der Nutzen dieses Wertes? Oder anders: was nützt es
> lebendige Schlachtfelder, lebendige elektrische Stühle,
> lebendige Giftmülldeponien, lebendige Foltermethoden zu
> haben?
Zunächst ist eine Foltermethode kein System, Objekt oder
Muster, dem nach Alexander eine Lebendigkeit zugeschrieben
werden könnte.
Wenn jemand gefragt würde "wie sehr ist die Mülldeponie ein
Spiegel deiner Seele und in welchem Grad findest du dich in
ihr repräsentiert? Wie sehr möchtest du sie als permanenten
Teil deiner Lebensumgebung haben?" dann wird vermutlich eine
sehr geringe Bewertung herauskommen.
Die Frage nach dem Nutzen kann man immer stellen und immer
- mangels Interesse - verneinen. Mir als Systemtheoretiker
nützen Begriffe und Theorieformen, die ich auf alle
denkbaren Systeme anwenden kann. Im allgemeinen entsteht
Nutzen, wenn dadurch Entscheidungen und Entwicklungen
dadurch besser ablaufen können.
> Das ist nicht zynisch gemeint, sondern verdeutlicht,
> dass die von Alexander definierte Lebendigkeit auf
> Funktionalitäten und auf normative, gesellschaftlich
> verhandelte Werte keine Rücksicht mehr nimmt, da es nur die
> eine Wahrheit gibt.
Alexanders Lebendigkeit ist gedacht als Einheit von Form
und Funktion. Eine Konfiguration ohne Funktion ist nicht
lebendig.
Richtig ist, dass sozial-gesellschaftlich verhandelte Werte
in dieser systemorientierten Betrachtungsweise keine Stellen-
wert haben. Das gilt aber auch für die Physik, ohne dass
man das dieser vorwirft.
Das letzte ist richtig. Alexander ist Dogmatiker und ich sehe
das auch als verzichtbares Element. Deswegen mein Versuch,
eine undogmatische Mustertheorie als modellhaftes Denkangebot
zu formulieren.
> Er hält z.B. die Interessen von
> Ökogruppen für irrelevant, weil es eben nur auf die
> Lebendigkeit ankommt.
Wo sagt Alexander, dass die Interessen von Ökogruppen
irrelevant wären? Du legst ihm hier etwas in den Mund.
Ökogruppen können in Sachfragen zu Ökosystemen recht oder
unrecht haben. Warum dringt Alexander auf schrittweise
Entwicklung, Tests nach jedem Schritt und Reversibilität?
Weil er die eigene Gestaltungsfehlerhaftigkeit berücksichtigt.
Er ist dogmatisch in seine Werten, aber pragmatisch und
realistisch in seiner Umsetzung.
> Für mich ist aber „gutes“ Design
> wichtiger als „lebendiges“.
Nur, dass du nicht allgemein-theorisch sagen kannst, was "gut" ist.
Also hast du damit nichts gewonnen.
> Vielleicht ist gutes Design
> immer lebendig, aber lebendiges ist nicht immer gut.
Oder umgekehrt.
> 3. Wie kommt es, dass für die durchaus testbare Hypothese
> objektiver Lebendigkeitsgrad nicht ein einziger empirischer
> Beleg erbracht wurde?
Aus meiner Sicht hat sich die Hypothese nicht bewährt.
Die bewährte Hypothese ist, dass Vergleichsurteile, aber
keine Absolutbeswertungen möglich sind, weil es keine
naheliegenden Maßstäbe (so wie eine "Daumenbreite") gibt.
> Zu 3: Die von Alexander durchgeführten Experimente, belegen
> genau dies nicht! Und damit meine ich nicht, dass seine
> Experimente in der Durchführung methodisch sehr fragwürdig
> sind (keine Standardisierung, keine Randomisierung, kein
> echter Paarvergleich, keine zufällige Stichprobe), sondern
> dass es ein grundsätzlicheres Problem gibt. Nehmen wir an,
> seine Experimente sind lupenrein durchgeführt worden, welche
> Aussagen lassen sie zu?
>
> Die Aussagen: a) Alle Objekte besitzen einen objektiven
> Lebendigkeitsgrad. b) Alle Objekte besitzen einen
> Lebendigkeitsgrad, der zu einem hohen Grad von
> unterschiedlichen Individuen gleich/ähnlich empfunden wird.
> c) Es gibt Objekte, die besitzen einen Lebendigkeitsgrad,
> der zu einem hohen Grad von unterschiedlichen Individuen
> gleich/ähnlich empfunden wird.
>
> sind offensichtlich nicht bedeutungsgleich. Alexanders
> Experimente belegen nur c.), er behauptet aber, dass a.)
> gilt.
Ich würde zu b) neigen.
> Warum lässt sich a.) nicht aus seinen Experimenten ableiten?
> a.) wäre nur gültig, wenn 100% der Probanden gleich
> empfinden würden. 80/90% erscheint zunächst hoch. Aber
> 10/20%, die eine andere Auffassung der Lebendigkeit haben,
> können nicht einfach unter den Tisch fallen. Alexander
> behauptet, diese 10/20% hätten sich geirrt; doch dann hätte
> man sich das ganze Experiment sparen könnten, da die
> Hypothese zur Tautologie wird („Die Probanden erkennen die
> Lebendigkeit ODER sie erkennen sie nicht und irren sich.“
> ist immer wahr.)
>
> b.) scheint auf den ersten Blick durch die Experimente
> belegt. Doch Alexander nutzt hier einen Trick, er verwendet
> nämlich für seine Experimente Objekte mit hoher
> intersubjektiver Übereinstimmung bei der Beurteilung. Dass
> es solche Objekte geben kann wird aber auch durch c.) nicht
> ausgeschlossen. Der Punkt ist, dass es auch Objekte geben
> kann (und die Alltagserfahrung zeigt dies), wo eine hohe
> Übereinstimmung nicht gegeben ist.
Womit belegst du diese Behauptung?
> b.) behauptet, dass es
> solche Objekte nicht gibt, doch die Experimente belegen dies
> nicht.
>
> Der Grund für die fehlende Objektivierbarkeit liegt meiner
> Ansicht nach darin, dass den Lebendigkeitseigenschaften jede
> Erfahrungskomponente fehlt. Dies macht die Eigenschaften
> nicht hinfällig, aber eben unvollständig. Subjektive
> Lebendigkeitseigenschaften werden unbegründet
> ausgeschlossen. Bilder und Eindrücke können jedoch
> zusätzlich an Lebendigkeit (oder Attraktivität) gewinnen
> wenn sie uns vertraut erscheinen oder wir zusätzliche
> Informationen über sie haben.
Das ist richtig. Das Beispiel, das ich dazu angeführt habe,
ist die Lebendigkeit des Klaviers ... primär für den Klavierspieler.
Aber diese Lebendigkeit ist objektiv vorhanden und keine Geschmacksfrage
des Klavierspielers oder eines Beobachters.
> Die Lebendigkeit eines
> Programmcodes erschließt sich nur dem Programmierer.
Ja. Auch Alexander meint, dass primär nur der Betroffene
diese Urteile gut treffen kann. Für einen Nicht-Programmierer
sind Programmcodes nur unverständliche Texte ohne Qualitäts-
merkmale. Er ist nicht Betroffener.
> Die
> Lebendigkeit eines Romans erschließt sich nur dem, der den
> Inhalt versteht und interpretieren kann.
Klar.
> Zur Gestalttheorie: Ich bin zwar kein Experte in Sachen
> „Gestalttherapie“, doch so weit ich weiß, baut diese zwar
> auf der Gestalttheorie auf hat aber sehr viele eigene
> Konzepte, die mit der kognitiven Gestaltwahrnehmung
> (Gegenstand der Kognitionspsychologie) nicht mehr viel zu
> tun haben. Die Gestalttherapie ist also nicht von Bedeutung
> für die Gestaltwahrnehmung (umgekehrt aber schon).
Viele Gestalttherapeuten kennen sich mit Gestalttheorie als
benachbarten Gebiet gut aus. Ich habe nur meinen Zugang, der
nicht sehr ertragreich war, dargestellt.
> Der Begriff „Patterns“ wird teils auch für die
> Gestaltgesetze verwendet – ein Hinweis darauf, dass
> wohlgeformte Muster nichts anderes als Gestalten sind, deren
> abstrakte (auch mentale) Repräsentation Schemata sind.
Zweifellos kann man versuchen, Ähnlichkeiten zwischen diesen
Theorien herzustellen. Ein pauschale Gleichsetzung von Begriffen
erscheint mir aber deshalb nicht möglich, weil die mitgedachten
Anschlusspunkte nicht passen werden; die Theoriegebäude sind zu
unterschiedlich.
Alexandersche Muster sind als Problemlösungen gedacht. Ist das
auch bei Gestalten bzw. Schemata der Fall? etc. Damit wird
jede Gleichsetzung sehr schnell hinfällig.
> Zwar
> spricht man bei nicht visuellen Einheiten meist nicht von
> Gestalten, durchaus aber von der Gestaltung (dem Design)
> dieser Formen, z.B. eines Musikstücks oder eines
> Unterrichts.
>
> Die grundlegende Frage dabei ist: wann erkennen wir etwas
> als eine vollkommene, zusammenhängende Einheit? Hier gibt es
> kognitive Abhängigkeiten auch von vergangenen Erlebnissen.
Das ist in manchen Anwendungsbereichen leichter (wie der Architektur
oder der Programmierung), in anderen Bereichen schwieriger (bei
Wissensarchitektur oder Kommunikation).
Aber das ist kein großes Problem von Alexander oder der Mustertheorie
als einer Systemtheorie.
> Algorithmisch kommt man da nicht sehr viel weiter, da
> unterschiedliche Verfahren unterschiedliche Einheiten
> clustern, also nicht objektiver sind, da die Verfahren und
> nicht die Gegenstände das Ergebnis bestimmten.
Jetzt sind wir wieder im Strohmann/Windmühlenbereich. Alexander
behauptet nicht, dass x-beliebige Verfahren objektive Ergebnisse
liefern.
----
Zusammenfassend erscheinen mir viele Punkte, wo du Anstoss an Alexander
nimmst, vertraut und verständlich. Wenige Architekten wollen sich von
Alexander darin leiten lassen, was gute Architekur ist. Egal, ob er
Recht hat oder nicht.
Auch ich mag weder seine mittlere poetische Phase noch seine späte
dogmatische Phase. Nur sehe ich das als persönliche Präsentationsform
eines Pioniers, nicht als wesentlichen Teil der Mustertheorie.
Manche Dinge (wie die GENAU 15 Eigenschaften) werden - mangels Kenntnisse
von Alexanders Texten - überbewertet. Alexander selbst schreibt, dass diese
Anzahl stark geschwankt hat und das es keine abschließende Sicherheit darübber gibt. Aber sie haben Jahrzehnte geforscht, und sich nach langem Hin-und-Her auf diese Set festgelegt. Es steckt also sehr viel nachdenken, Schweiß und Mühe in dieser Eiegnschaftssammlung.
Wogegen ich bin, ist dass man diese Eigenschaftssammlung ohne entsprechende
Prüfung wegwischt oder erweitert, quasi aus einem Impuls oder einer Laune heraus. Speziell, wenn man dann vorgibt, es hätte immer noch mit Alexander oder seiner Konzeption von Mustern zu tun.
lg Helmut
> LG, Christian
Re:15 Eigenschaften als Formkategorien?
Kommentar von chrisimweb am 19.05.2009 21:51
Lieber Helmut,
mein Verständnis der Eigenschaften hat sich durch unsere Diskussion sehr verbessert! Dafür erst einmal danke! Aus Deinen Kommentaren auf den vorherigen Blogeintrag entnehme ich, dass unsere Positionen gar nicht so weit auseinander sind.
Ich folge Deinem Beispiel und füge Quotes ein.
> Früher wurde "Quality without a name gesagt"
Ich finde QWAN gar nicht so schlecht – auch wenn ich ihn früher mystisch fand. Da aber sowohl „Lebendigkeit“ oder „Attraktivität“ unterschiedliche konnotiert sind, ist die Namenlosigkeit vielleicht gar nicht so schlecht?
> Wirfst du auch Newton vor, dass er nur ein
> eingeschränktes Verständnis der Physik gehabt
> hätte? Forschung ist immer unabgeschlossen.
Ich werfe Alexander nicht vor, dass die Theorie noch nicht fertig ist (denn endgültige Theorien gibt es nicht), sondern dass er sich nicht mit bekannten philosophischen Positionen, z.B. Ästhetik (Empfinden von Lebendigkeit) oder Ontologien (Begriffe), auseinandergesetzt hat. Ja, ich würde Newton ein eingeschränktes Verständnis vorwerfen, WENN er bisherige Erkenntnisse grob außer Acht gelassen hätte. Z.B. spricht Alexander stets davon eine „neue“ Wissenschaft schaffen zu wollen, erörtert aber an keiner Stelle erkenntnistheoretische Überlegungen. Ferner scheint ihm qualitative Forschung völlig fremd zu sein, denn dort sind teilweise Methoden, die er als „neu“ postuliert (etwa das „Hineinfühlen“) bereits vorhanden und systematisch aufbereitet.
> Trotzdem sind etwa Tonhöhen oder Harmonien etwas Objektives.
Das ist richtig. Ich bezweifle auch nicht, dass die Eigenschaften (also z.B. das Vorhandensein von Grenzen oder Kontrast) nicht in den Formen gegeben sind. Mein Punkt ist, dass die Wirkung der entstehenden Form unterschiedlich empfunden werden kann. Die gleiche Melodie, der gleiche Text kann unterschiedlich interpretiert und empfunden werden. Bei „Lebendigkeit“ geht es aber gerade um die Wirkung. Schönheit oder Lebendigkeit mag ihren Ursprung im Objekt haben, doch die Wirkung kann auf Subjekte unterschiedlich sein – bei Alexander ist aber auch die Wirkung objektiv.
> Auch ein Volksmusikverächter kann
> im Urteil zwischen zwei Volksmusikstücken
> die gleiche Bevorzugung treffen
> wie ein Volksmusikliebhaber.
Das ist richtig, auch der Verächter kann urteilen. Es geht aber um die intersubjektive Ähnlichkeit der Beurteilung. Vergleichen müsste man auch nicht nur zwei Volksmusikstücke sondern z.B. ein Heavy Metall Stück mit einem Volksmusikstück. Da nach Alexander der Grad der Lebendigkeit allein vom Objekt abhängt, müssten alle Menschen identisch urteilen, sich also alle entweder für das Heavy Metall Stück oder die Volksmusik entscheiden. Dies sollte zumindest so sein wenn die Wirkung allein vom Objekt abhängt.
> Das ist fiktiv. Die Frage
> "ist das lebendig" ist falsch
> gestellt (Lebendigkeit ist
> keine ja-nein- > Eigenschaft) und
> nicht intuitiv verständlich.
Ich habe ja vorher von Lebendigkeit gesprochen und der Begriff der Lebendigkeit impliziert bereits Grade. Richtig ist natürlich, dass ich z.B. fragen müsste: „Findest Du ‚Hoch auf dem gelben Wagen’ oder ‚Highway to Hell’ lebendiger?“. Nach Alexander müssten hier alle gleich antworten.
> Zunächst ist eine Foltermethode
> kein System, Objekt oder
> Muster, dem nach Alexander
> eine Lebendigkeit zugeschrieben
> werden könnte.
Warum nicht? Auch eine Foltermethode hat eine Form, die z.B. raum-zeitlich von der Essensausgabe oder einem normalen Verhör abgegrenzt werden kann. Nun mag Folter eine extreme Form sein, aber dennoch lässt sich für sie ein Zentrum (zusammenhängende Sequenz), explizite Grenzen oder Grobheiten (z.B. Unberechenbarkeit der nächste Aktionen) ausmachen. Auch kann die Umsetzung einer Foltermethode mehr oder weniger gut gelungen sein – die „gute Form“ der Folter ist dann aber dennoch nichts gutes, denn sie ist in ihrer Wirkung etwas negatives. „Gute Form“ ist also sprachlich überladen: es meint zum einen, dass ein Exemplar gut dem Ideal entspricht, zum anderen, ob etwas auch wirklich gut ist (also gut wirkt).
> Richtig ist, dass sozial-gesellschaftlich
> verhandelte Werte in dieser systemorientierten
> Betrachtungsweise keine Stellen-
> wert haben. Das gilt aber auch für die Physik, ohne dass
> man das dieser vorwirft.
Die Physik ist aber auch nicht gestaltbar sondern naturgegeben.
In dem Moment, wo wir mit Hilfe der Physik etwas erreichen, sie uns also zu Nutze machen, sind wir bereits schon wieder bei der Gestaltung.
Die Physik selbst lässt sich aber nicht gestalten, nur ihre Anwendung, das physikalische Experiment oder die Ausformulierung einer Theorie. Welche Forschungsmethoden und Strategien zur Hypothesenfindung und –prüfung paradigmatisch von der Forschungsgemeinschaft akzeptiert werden, sind dabei sehr wohl sozial-gesellschaftlich verhandelte Werte.
> Wo sagt Alexander, dass die
> Interessen von Ökogruppen
> irrelevant wären? Du legst
> ihm hier etwas in den Mund.
Zitat „Nature of Order“, Band 1, S. 18:
“In discussing what to do in a particular part of a town, one person thinks povetry is the most important thing. Another person thinks ecology is the most important thing. Another person takes traffic as his point of departure. Another person views the maximization of profit from development as the guiding factor. […] It is assumed that there is no unitary view through which these many realities can be combined. They simply get slugged out in the marketplace, or in the public forum. But instead of lucid insight, instead of growing communal awareness of what should be done in a building, or in a park, even on a tiny park bench – in short, of what is good – the situation remains one in which several dissimilar and incompatible points of view are at war in some poorly understood balancing act.”
Nach Alexanders Verständnis sind diese einzelnen Interessen irrelevant, da es eine inheränte gute Form unabhängig von den Individuen gibt. Interessen müssen also nicht demokratisch ausbalanciert werden, da die Güte einer Form etwas objektives ist. Dies würde stimmen, wenn es objektive Wirkkräfte oder Forces gäbe. Wirkkräfte werden aber nach den Interessen und Überzeugungen der beteiligten Personen unterschiedlich bewertet und gewichtet. Nach obiger Aussage balancieren Muster nicht die subjektiv bewerteten sondern die objektiv vorhandenen Wirkkräfte aus.
> Alexandersche Muster sind als Problemlösungen gedacht. Ist das
> auch bei Gestalten bzw. Schemata der Fall? etc. Damit wird
> jede Gleichsetzung sehr schnell hinfällig.
Ja, das ist gerade bei Schemata der Fall. Nicht jedes Schema ist eine Problemlösung, aber es gibt auch Muster (oder Formen), die keine Probleme lösen, z.B. Mondphasen, Jahreszeiten, Sonnenaufgang oder steigende Verkaufszahlen zu Weihnachten. Schemata sind ganz allgemein zusammenhängend wahrgenommene Strukturen. Es gibt ausdrücklich Problemlöse-Schemata. Das sind gerade die Gedächtnisstrukturen, die uns bei einem bekannten Problem auf eine vertraute Lösung zurückgreifen lassen – also quasi die Entwurfsmuster im Kopf. Eine ausführliche Darstellung findest Du von mir und einer Kollegin unter: http://hillside.net/plop/2008/papers/PLoP2008_43_Kohls+Scheiter.pdf
> Wogegen ich bin, ist dass
> man diese Eigenschaftssammlung ohne entsprechende
> Prüfung wegwischt oder erweitert, quasi aus
> einem Impuls oder einer Laune heraus.
> Speziell, wenn man dann vorgibt, es hätte
> immer noch mit Alexander oder seiner
> Konzeption von Mustern zu tun.
Wenn ich mich auf den Musteransatz beziehe, dann im wesentliche auf das, was Alexander vor „Nature of Order“ veröffentlicht hat, denn dies ist die Grundlage für die Weiterentwicklung der Pattern Community. Dies ist auch legitim, schließlich gab es den Musteransatz bereits vorher!
Von diesem Standpunkt aus haben sowohl Alexander als auch die Pattern Community den Ansatz weiterentwickelt, wobei der Austausch mit Al. wohl nicht immer ganz so einfach war.
Es ist doch vollkommen legitim, eine Idee oder einen Ansatz weiterzuentwickeln und wenn dies unabhängig geschieht, dann kann dies auch in verschiedene Richtungen laufen – und dabei ist nicht gesagt welche die richtigere ist.
Die Pattern Community hat z.B. Methoden zum Auffinden von Mustern expliziert, mit
Shepherding und Writer's Worskhops sehr kommunikative Formen zur Weiterentwicklung der Beschreibungen aufgegriffen, und schließlich auch bestimmte Standards paradigmatisch herausgearbeitet - wie z.B. das Entwickeln von Mustern primär auf Basis existierender Formen.
Alexander hat seinen Ansatz ebenfalls weiterentwickelt. In Nature of Order sind aber auch viele alte Gedanken enthalten, und mit denen stimme ich auch leichter überein.
Neu sind dagegen die Idee der Lebendigkeit, eine noch stärkere Fokussierung auf die objektive Wahrheit und schließlich die Lebenseigenschaften selbst.
Da der Musteransatz im Bereich der Software Patterns gut funktioniert ist es nicht zwingend notwendig sich mit Alexanders Weiterentwicklung zu beschäftigen, denn wenn wir den ursprünglichen Ansatz MT1 und die Weiterentwicklung MT2 nennen, dann ist es durchaus legitim, nur auf MT1 und nicht auf MT2 Bezug zu nehmen – denn MT1 und nicht MT2 war die Ausgangslage! Daher bezieht sich die Pattern Community auf MT1, setzt sich aber durchaus kritisch mit MT2 auseinander und vergleicht sie mit ihrer eigenen Weiterentwicklung MT3.
Ich mache dies derzeit z.B. dadurch, indem ich kritische Fragen stelle hinsichtlich MT2 (aber auch hinsichtlich MT3, das ist meine nächste PLoP-Einreichung). Denn eine Theorie soll ja geprüft und nicht verifiziert werden! Ich suche also bewusst nach Gegenargumenten. Wenn sich diese als gegenstandslos erweisen, spräche das für MT2 und die darin vorgeschlagenen Lebendigkeitseigenschaften. Ich wische sie also nicht einfach weg, sondern kritisiere sie.
1. Beim ersten Lesen der Eigenschaften hat sich intuitiv ein gewisses Unbehagen bei mir eingeschlichen, dass die Eig. an sich zwar schlüssig, aber nicht vollständig begründet sind. Wenn die Eigenschaften greifen, dann müsste ich doch intuitiv von ihnen überzeugt sein? Sonst sind sie dem Gestalter schwer zu vermitteln.
2. Grundlage der Eigenschaften ist - so gibt Alexander selbst an - die Gestalttheorie mit ihrer ganzheitlichen Sichtweise und Formwahrnehmung. Die Gestaltgesetzte habe ich in gleicher oder modifizierter Form in seinen Eigenschaften wieder gefunden und mich eben gewundert, warum einige fehlen und andere Eigenschaften ergänzt worden sind – völlig ohne Begründung.
3. Die Zahl um die 15 ist für mich auch verdächtig, da ich in meinem Regal auch die "Universal Principles of Design" mit 100 Eigenschaften und "4 Laws that drive the Universe“ stehen habe. Zudem werden in der Literatur über Gestalttheorie zwischen 5 und über 100 Gestaltgesetze genannt – hier wird also auch ganz unterschiedlich beurteilt. Die Größenordnung scheint mir also keineswegs zwingend.
Wenn wir bei den Eigenschaften über "kritische Formeigenschaften" sprechen und davon ausgehen, dass jede Form bestimmte Funktionalitäten und Qualitäten (also auch Lebendigkeit) hat, dann bin ich sofort dabei. Nur können "gute Formen" eben auch "schlechtes" bedeuten. Denn das "gute" oder "schöne" einer Form ist die Nähe zu ihrem Ideal.
Diese Ideale betrachte ich aber als individuell und sozial konstruiert. Wenn wir Form als eine wahrgenommene Gestalt oder Struktureinheit verstehen, dann gibt es natürlich "rein" objektive Regeln nach denen man eine Form als Ganzes erkennt. Hinzu
kommt aber auch die individuelle Erfahrung, die uns bereits bekannte Strukturen wieder erkennen lässt und somit die Wahrnehmung nicht mehr allein vom Objekt sondern auch von den früher wahrgenommenen Objekten abhängt. Dies gilt sowohl für räumliche, zeitliche und abstrakte Objekte.
Was aber aus meiner Sicht viel wichtiger ist, ist der Prozess wie Formen entstehen und
etablierte Formen (Muster) auf Einzelsituationen übertragen werden können. Hier stimme ich mit Alexanders Ansätzen des sich Entfaltens, der strukturerhaltenden Transformationen, den Sequenzen, dem schrittweise Wachsen, der ganzheitlichen und rekursiven Aufteilung von Problemstellung usw. im wesentlichen überein. Diese Überlegungen finden sich bereits großteils in den vorherigen, sie sind also schon Teil von MT1 und in MT3 (Auffassung der Pattern Community) eingeflossen, z.B. im Agilen Design.
LG,
Christian
Lebendigkeit und Sprachspiele
Kommentar von chrisimweb am 21.05.2009 19:23
In einer Einführung zu Wittgenstein (von Kai Buchholz) habe ich über Wittgensteins Sprachspiele folgende Bemerkung gefunden:
"Im Ganzen betrachtet, sind die verschiedenen Spielsorten in unterschiedlichem Maße zweckgerichtet und decken eine große Spannbreite zwischen strenger Regelhaftigkeit und kreativer Freiheit ab. Das hat schon Friedrich Schiller klug erkannt, der die Tätigkeit des Spielens als Harmonisierung von Form- und Stofftrieb beziehungsweise von Gestalt und Leben begreift. Den Gegenstand des Spieltriebs nennt er deshalb auch lebende Gestalt - eine harmonische Verbindung von freien und geregelten Handlungswissen."
Ich glaube, das charakterisiert die Lebendigkeit von Mustern ganz gut: Spielräume bei der Gestaltung bedeuten sowohl Regelhaftigkeit als auch Freiheit. Ohne Regeln und Ordnung herrscht Chaos. Ohne Freiheit (bei der Entfaltung) findet keine Anpassung (keine Reaktion auf und Interaktion mit der Umgebung) mehr statt. Die Transformationen einer Struktur über die Zeit sind Merkmale der Lebendigkeit: ein Ort, an dem nichts mehr geschieht - keine Veränderung mehr stattfindet - ist genauso tot wie ein Server, der nicht reagiert, oder ein Telefonanschluss, der nicht mehr erreichbar ist oder eine Situation, in der es keine Handlungsmöglichkeiten mehr gibt: eine Sackgasse oder englisch "dead end". Bei Prozessen sprechen wir auch von Lebenszyklen und meinen damit den zeitlichen Abschnitt, in dem noch Transformationen, d.h.
Zustandsübergänge stattfinden.
LG,
Christian
Re:15 Eigenschaften als Formkategorien?
Kommentar von HelmutLeitner am 23.05.2009 11:22
Christian,
Zum Thema Gestaltgesetze: Aus meiner Sicht spiegeln Gestaltgesetze Wahrnehmungsheuristiken wieder, die nichts mit Alexanders Lebendigkeit oder einer anderen Qualität zu tun haben. Insofern sehe ich auch keine Vergleichsmöglichkeit zwischen der Anzahl von Gestaltgesetzen und der Anzahl von Alexanderschen Eigenschaften. Ich würde eher umgekehrt Fragen: aus welchen Gestaltgesetzen ergeben sich den für mich in einer Gestaltungssituation allgemeinen Denk- oder Handlungsoptionen? Wenn das positiv beantwortet ist, würde ich die Frage anschließen: Kann diese Denk/Handlungsoption auch mit den Alexanderschen Eigenschaften dargestellt werden?
D.h. z. B: im Verhältnis Eltern zu Kindern, wenn es um die Frage geht: "wer darf was?" ... ist aus jedem einzelnen Gestaltgesetz jetzt dazu ein produktiver Gedanke dazu ableitbar? Aus den Alexanderschen Eigenschaften geht das vermutlich, auch wenn ich das in dieser speziellen Frage weder getan habe noch durchführen möchte. Ich kann z. B. die Frage stellen, in welchem Verhältnis die Zentren (Vater, Mutter, Kind, Geschwister) stehen und ob eine Veränderung bewirkt. Ich kann eine Frage nach der Anpassung stellen. Ich kann Konzepte der Proportionaliät (Regeln für jüngere, ältere Kinder) verwenden. Oder der Einfachheit. Oder der Ambivalenz (Eltern und Kinder könnten z. B. an einem Tag ihre Rollen tauschen). Sind die Grenzen definiert oder bestimmt elterliche Willkühr und Laune? usw. Gibt es den Zusammenhalt der Familie und das Erleben der Ganzheit? Gibt es Symmetrie (etwa zwischen den Kindern) usw.
Ich gebe zu, ein gestaltheoretischer Laie zu sein. Aber bitte, wie schauen die allgemeinen methodischen gestalttheoretischen Denkansätze in solchen Situationen aus? Mir sind die noch nicht begegnet, deswegen konnte ich sie nicht integrieren.
Übrigens gibt es auch noch eine wichtige Quelle ganzheitlicher Vorstellungen, die noch nicht erwähnt wurde, nämlich Jan Christiaan Smuts, der nicht nur ein Buch "Holism" geschrieben hat, sondern bereits alle wichtigen Begriffe wie "center" und "field" im Alexanderschen Sinn vorweggenommen hat. Ich erwähne das, weil ganzheitliches Denken nicht ohne Fallstricke ist: es wird schnell zum organischen Denken einer heiligen Ordnung des status quo. Smuts war erfolgreicher Realpolitiker in Südafrika, einer der Hauptstrategen der Allierten im zweiten Weltkrieg, Schöpfer des Commonwelth-of-Nations-Konzeptes, ganzheitlicher Philosoph, aber auch Schöpfer der Apartheit-Politik. Für mich ist es eines der großen Fragezeichen hinter Alexanders Leistung, dass es keine Referenzen auf den in England äußerst populär gewesenen Smuts in Alexanders Schriften gibt.
lg Helmut