Von Frank Vohle habe ich direkt persönlich von seiner Initiative erfahren, die er gemeinsam mit Prof.in Dr. Anja K. Haftmann – einer Expertin für kommunikationsintensive Führungsthemen – und tsm video – einer Firma, die auf Schulungsmedien für Erwachsenenbildung spezialisiert ist – gestartet hat. Mit dabei sind natürlich auch die beiden mit Frank verbundenen Firmen bzw. Projekte: Ghostthinker – reframing learning und edubreak®CAMPUS - eine Online-Lernumgebung und Videoplattform, die den eureleA 2011 gewonnen hat.
Leider habe ich erst vorige Woche davon erfahren und konnte aus beruflichen Gründen nicht sofort reagieren. Deshalb ist Eile geboten: Die (kostenfreie) Anmeldung schließt nämlich bereits morgen, den 1. September, weil die Online-Phase bereits vom 2.9. bis 15.9.2013 mit einem Zeitaufwand von etwa 3 bis 4 Stunden insgesamt läuft. Zielgruppe des Kurses sind Führungskräfte und Führungsnachwuchs: Es geht um anlassbezogenen Mitarbeitergespräche, dem anhaltenden Fehlverhalten von Mitarbeitern und den daraus resultierenden Folgen.
Unabhängig von der recht knappen Deadline meines obigen Hinweises ist diese Großveranstaltung für mich langfristig und theoretisch von großem Interesse aus zwei verschiedenen Gründen: Als didaktischen Experiment und für die Theoriebildung zur Struktur von (stummen) Erfahrungswissen.
1. Ein Experiment mit vielen didaktisch innovativen Momenten
A. Denkschleife und Massenveranstaltung
Einerseits soll mit dem geplanten LOOP die Debatte um Massive Open Online Courses (MOOCs) in eine neue Richtung angestoßen werden: Ganz im Sinne von "traditionellen" MOOCs handetl es sich beim Experiment um eine (kostenfreie) Großveranstaltung, die über das Internet organisiert und abgehalten wird. LOOP ist keine Abkürzung, sondern steht für (Denk-)Schleife und soll das – aus didaktischer Sicht eher unpassende – Wort "massiv" ersetzen. Damit wird auch auf die enorm wichtige Feedback-Funktion beim Lernprozess verwiesen, die aus systemtheoretischer Sicht auch als (Denk-) bzw. Rückmeldungs-Schleife oder Loop bezeichnet werden kann.
In meiner Taxonomie von Unterrichtsmethoden 1 habe ich Feedback sehr kursorisch – wie viele andere didaktische Maßnahmen – im Kapitel für didaktische Prinzipien und Dimensionen abgehandelt. Quasi nebenbei habe ich jedoch auch die enorme Bedeutung von Rückmelde-Mechanismen, die Denk-Schleifen im Lernprozess anstoßen sollen, festgehalten:
Aus meiner Sicht ist Lernen ohne jegliche Rückmeldung gar nicht möglich. Das Feedback muss natürlich nicht immer durch LernhelferInnen erfolgen, sondern kann durch elektronische Hilfsmittel … oder auch durch die Praxis selbst …, d.h. beispielsweise im Scheitern einer Handlung bestehen. (185)
Ich habe darauf verwiesen, dass nicht nur die inhaltliche Qualität der Rückmeldung sondern auch der Zeitpunkt und Art und Weise des Feedbacks ein wichtiges Merkmal von Lernprozessen darstellt. Als wichtige Differenzierungskriterien habe ich neben die zeitliche Nähe auch noch die Unterscheidung zwischen summativer (bilanzierender, abschließend bewertender) und formativer (in die Zukunft gerichtete mit möglichen Änderungsvorschlägen verknüpfte) Rückmeldung vorgeschlagen. – Auf das Problem, dass Rückmeldung ein qualitativ gehaltvoller und sehr individueller Prozess ist, bin ich jedoch nicht eingegangen. Gerade bei Massenveranstaltungen ist aber Rückmeldung eine didaktische Herausforderung par excellence.
B. Didaktische Fragestellungen beim LOOP-Experiment
Frank Vohle möchte nun seine reichlich gesammelten Erfahrungen zum "situationsgenauen Videokommentar" 2 auch auf Massenveranstaltungen ausweiten. Dabei kann er bereits auf ein reichhaltiges Inventar an Video-Annotationsfunktionen ("rich video annotation") zurückgreifen: Schon bisher können NutzerInnen Zeitmarken Millisekunden genau mit freiem Text, Schlagworten, Zeichnungen, Audio-Aufnahmen anreichern. Dazu gibt es auch noch erweiterte Bewertungs- und/oder Stimmungsbarometer wie Ampel-Auwahloptionen, Wettermetaphern und Bilder als visuelle Schlagwörter, die hinzugefügt und nach denen gegliedert, sortiert und gesucht werden kann.
Konkret ging es ihm schon immer bei der Entwicklung seiner Annoationswerkzeuge, darum, didaktische Fragestellungen zu beantworten wie z.B.:
- Welche Videoinhalte müssen wie von wem aufbereitet werden?
- Welche Aufgaben sollte man zur Reflexion und Kollaboration stellen?
- Wie stark sollte der Prozess angeleitet werden?
- Wer leitet?
- Wie gut oder schlecht passt das Seminarschema generell für die Betreuung und das Feedback?
Diese allgemeinen Fragen zur Video-Annotation werden nun in Hinblick auf Massenveranstaltungen ergänzt:
- Wie können Lernende zur Produktion von Videokommentaren massenhaft angestiftet werden?
- Wie können sich Lernende mit 1000 und mehr Videokommentaren so koordinieren, dass die Re-Kommentierungen für den Einzelnen noch sinnstiftend sind?
2. Erfahrungswissen ist nicht nur sprachlich codiert
Ein ganz anderer Aspekt, der mich ganz besonders interessiert, ist die Tatsache, dass ich Erfahrungswissen nicht immer bzw. nicht vollständig alleine durch Sprache vermitteln lässt. Schon 1993 in meiner Habilitationsschrift (Download: siehe Attachment am Ende dieses Artikels) habe ich im Kapitel "Stummes Wissen" mit Bezug auch Michael Polanyi 3 ausdrücklich darauf verwiesen, dass "wir mehr wissen, als wir zu sagen wissen". Nach Susanne Langer 4 brauchen wir neben Sprache auch andere Symbolsysteme, die nicht an Sequentialität gebunden sind und sich auch nicht in beliebig kleine Bedeutungseinheiten zerlegen lassen, sondern Gestaltcharakter haben.
Aus diesem Grunde beschäftige ich mich mit dem Musteransatz von Christopher Alexander; aus diesem Grunde aber organisieren wir immer wieder Forschungswerkstätten, die diese Thematik aus verschiedenen Perspektiven beleuchten. Gerade im nächsten Jahr wollen wir hierzu wieder einen Schwerpunkt legen: Dieser inhaltliche Schwerpunkt wird sowohl durch eine Forschungswerkstatt im Sommersemester zur seriell-ikonografischen Fotoanalyse mit Frau Prof.in Dr.in Ulrike Pilarczyk (angefragt) als auch einer weiteren Forschungswerkstatt im Wintersemester mit Dr. Frank Vohle zu der erwähnten situationsgenauen Videokommentierung realisiert.
Die in diesem Artikel beschriebene Videokommentierung ist aus meiner Sicht durch zwei Aspekte besonders interessant: Video ist sowohl ein sequentielles Medium, dh. es gibt einen linearen Ablauf. Wie bei Sprache folgt eine Sequenz nach einer anderen. Andererseits aber hat jede Videosequenz den von Susanne Langer geforderten präsentativen (Gestalt-)Charakter, der sich zwar (u.a.) sprachlich kommentieren lässt, sich dabei aber nicht komplett erfassen lässt. Gerade dieser Doppelcharakter zwischen linearen Sequenzen – die in ihrer Dynamik Bedeutungsinhalte generieren, die sich im Kontext einer Situation widerspiegeln – und dem präsentativen statischen Charakter eines Videobildes bzw. einer einzelnen Sequenz, die annotiert wird – halte ich für ein spannendes Untersuchungsfeld. Die "statische" kommentierte Video-Sequenz lässt sich nämlich durchaus mit linguistischer Indexikalität vergleichen, z.B. wenn auf eine Sequenz "hinzeigend" (deiktisch) gesagt wird "DIES ist mir wichtig, DARAUF beziehe ich mich, wenn ich davon spreche" (vgl. Vohle:179).
Damit ergibt sich gleichzeitig aber auch ein Zusammenhang mit sozialwissenschaftlichen Klassiker wie z.B. Alfred Schütz 5, Harold Garfinkel 6, Erwin Goffman 7. Vielleicht lässt sich hier auch ein (weiterer) Schritt für eine kommunikations- und gleichzeitig handlungstheoretischen Grundlegung der Didaktik entwickeln, wo sowohl Semiotik á la Charles Saunders Peirce 8 und Handlungstheorie á la Jürgen Habermas 9 mit Fragen der phänomenologisch geprägten Sinnstiftung und Relevanz miteinander verknüpft werden.
Fußnoten
- Baumgartner, Peter. 2011. Taxonomie von Unterrichtsmethoden: ein Plädoyer für didaktische Vielfalt. Münster: Waxmann.
- Vohle, Frank. 2013. Relevanz und Referenz: Zur didaktischen Bedeutung situationsgenauer Videokommentare im Hochschulkontext. In: Hochschuldidaktik im Zeichen von Heterogenität und Vielfalt, hg. von Gabi Reinmann, Martin Ebner und Sandra Schön, 165–181. Bad Reichenhall: BIMS e.V. S.168
- Polanyi, Michael. 1985. Implizites Wissen. Suhrkamp.
- Langer, Susanne K. 1957. Philosophy in a New Key: Study in the Symbolism of Reason, Rite and Art. 3. Aufl. Harvard University Press.
- Schütz, Alfred. 1982. Das Problem der Relevanz. Frankfurt a.M: Suhrkamp.
- Garfinkel, Harold. 1984. Studies in ethnomethodology. Cambridge, UK: Polity Press.
- Goffman, Erving. 1980. Rahmen-Analyse: Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen. 8. Aufl. Suhrkamp Verlag.
- Peirce, Charles Sanders. 1983. Phänomen und Logik der Zeichen (suhrkamp taschenbuch wissenschaft). Hg. von Helmut Pape. Frankfurt a.M: Suhrkamp.
- Habermas, Jürgen. 2006. Theorie des kommunikativen Handelns. 6., Aufl. 2 Bd. Suhrkamp.
Eine Antwort auf „LOOP – Social Video Learning“
Lieber Peter, vielen Dank für die Nennung und die ausführlichen Hinweise zum theoretischen Hintergrund / Potenzial. Das ist in den letzten Jahren immer mal wieder aufgeflammt, aber nie richtig und in dieser Ballung formuliert worden. Neben dem didaktischen Analyserahmen (i.e.S.) interessiert mich genau diese soziologisch-philosophische Perspektive. Freue mich also auf FW 2014. Viele Grüße! Frank