Wie kommt das Neue in die Schule? Offenheit als Herausforderung in der Governance von Bildungsinnovationen. (Dissertation an der Alpen-Adria Universität Klagenfurt, 2011)
Abstract
Stichworte: Educational Governance, Akteur-Netzwerk-Theorie, Vertrauen, Innovationen,
Innovationstransfer, Governance, Transparenz, Flexibilität, Innovationstheorie, Bruno
Latour, e-Learning
Schule sieht sich heute einem nie zuvor da gewesenen Reformdruck ausgesetzt. Sie muss sich verändern, will sie ihrem Ziel gerecht werden, Kinder und Jugendliche auf das Leben und den Beruf in einer sich ständig in Veränderung befindlichen globalisierten Welt vorzubereiten. Konzepte wie das Lebenslange Lernen unterstützen die Forderung nach einer veränderten Lernkultur, die Lernende wieder mehr in den Mittelpunkt stellt.
Die vorliegende Arbeit setzt sich mit einer Problematik auseinander, die vielfach mit zentral initiierten Reformprogrammen und Innovationsprojekten verbunden ist, nämlich mit der Schwierigkeit, Innovationen in der Schulrealität umzusetzen. Hier zeigt sich, dass von "oben" verordnete Innovationen "unten" meist nicht wie intendiert ankommen. "Wie kommt das Neue in die Schule?" begibt sich auf die Suche nach Innovationsprozessen und ist dabei bestrebt, neue Perspektiven einzunehmen. Die Arbeit sieht sich als Beitrag zur Educational Governance, einer noch jungen Forschungsrichtung, die nicht nur einzelne Steuernde in den Blick nimmt, sondern alle Innovationsbeteiligten als "Steuerungssubjekte" betrachtet. Sie orientiert sich darüber hinaus an der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) Bruno Latours, die Innovationen als mannigfaltige Inszenierung ansieht, als Idee, der es gelingt, genügend AkteurInnen – darunter auch nicht-menschliche AkteurInnen – um sich zu versammeln. Im Gegensatz zur englischsprachigen Governance-Literatur findet die Akteur-Netzwerk Theorie in der deutschsprachigen Literatur noch wenig Verbreitung. Die vorliegende Dissertation zählt zu den ersten Versuchen, die Akteur-Netzwerk Theorie als theoretischen und auch methodischen Ansatz für die deutschsprachige Educational Governance-Forschung zu erschließen. Sie zeigt Parallelen als auch Unterschiede der ANT zu den Grundbegriffen der Educational Governance auf. So gehen beide Forschungsperspektiven beispielsweise von einem ähnlichen Machtbegriff aus, ihre Netzwerkbegriffe unterscheiden sich jedoch grundlegend.
"Wie kommt das Neue in die Schule" setzt sich kritisch mit dem Innovationsbegriff auseinander und stellt das Translationsmodell Bruno Latours dem Diffusionsmodell Rogers gegenüber.
Der zweite Teil der Arbeit befasst sich mit einer Untersuchung des österreichischen Innovationsprojekts "eLSA" (e-Learning im Schulalltag) und sucht u.a. folgende Fragen zu beantworten: Wie koordinieren verschiedene AkteurInnen ihre Handlungen rund um die geplante Innovation? Welche Steuerungsversuche sind dabei beobachtbar? An welchen Kontroversen entfaltet sich der Innovationsprozess und welche AkteurInnen sind daran beteiligt?
Es wurden 19 teilstrukturierte Leitfadeninterviews durchgeführt und die Daten mit der Grounded Theory Methode (GTM) ausgewertet. Hier wurde ein neuerer Ansatz der GTM nach K. Charmaz herangezogen und mit einem Mix aus Situational Analysis nach A. E. Clarke und integrativer text-hermeneutischer Analyse nach Helfferich/Kruse kombiniert. Ergebnis der induktiven Kategorienbildung sind zwei zentrale Kategorien, "Flexibel handeln" sowie "Transparenz schaffen". Anhand der beiden Kategorien wird das Interviewmaterial in vier verschiedenen Kapiteln aufgearbeitet. So geht es in der Arbeit beispielsweise um den flexiblen Umgang mit technischen Problemen oder um den Unterschied zwischen "Einblick nehmen" und "Einblick gewähren". Die Dissertation experimentiert dabei mit neuen Formen wissenschaftlichen Schreibens. Die Ergebnisse werden in Form von Vignetten präsentiert, das sind dichte Beschreibungen konkreter Situationen aus dem Interviewmaterial, die der Leserin/dem Leser eine emotionale Immersion in das Innovationsgeschehen ermöglichen sollen.
Die vier Ergebnis-Kapitel stellen jeweils die Verbindung zur soziologischen Kategorie "Vertrauen" her und gehen der Frage nach, welche Rolle Vertrauen im Innovationsgeschehen spielt bzw. inwiefern sich Vertrauen überhaupt aktiv herstellen lässt. Die Arbeit folgt der Definition Niklas Luhmanns, demnach Vertrauen die Reduktion von Komplexität darstellt. Vertrauen wird zudem in Anlehnung an die ANT als Ergebnis einer komplexen Netzwerkbildung aus menschlichen und nicht-menschlichen AkteurInnen verstanden. Zu den wesentlichen Erkenntnissen der vorliegenden Arbeit zählt, dass sowohl Planung als auch Evaluierung von Innovationsprojekten Methoden benötigen, die weniger auf eine Ereignisbeherrschung als auf eine Offenheit gegenüber dem Unerwarteten abzielen. Es gilt, flexibel mit dem Unerwarteten umzugehen und dabei die eigenen Beweggründe so transparent wie möglich zu halten. Die Arbeit diskutiert in diesem Zusammenhang auch die besondere Bedeutung des Dialogs.
"Wie kommt das Neue in die Schule" richtet sich an all jene, die in schulische Veränderungsprozesse involviert sind, seien das forschende, planende und/oder "nacherfindende" Personen. Das Ziel der Arbeit ist es, zum Verständnis komplexer Innovationsprozesse beizutragen und zur Offenheit gegenüber Unerwartetem anzuregen.
Das Disseratation ist inzwischen als Buch erschienen: Ullmann, Marianne. 2012. Schule verändern: Offenheit als Herausforderung in der Governance von Bildungsinnovationen. 2012. Aufl. Springer VS.