Theorie, Methode, Werkzeug?
In der Mitte des Buches "Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft" fasst Latour die bisherigen Überlegungen zu ANT in Form eines Dialogs zusammen. Der Text dieses Kapitels steht für sich alleine und verweist nicht auf frühere Kapitel und Argumentationen. Er ist auf Latours Website in einer englischen Fassung vorhanden.
Allerdings glaube ich inzwischen, dass es ungünstig ist, diesen Text alleine und isoliert zu lesen. Ich habe ihn zwar selbst bereits seit Jahren als einen einführenden Text für Veranstaltungen zum wissenschaftlichen Arbeiten verwendet. Vor kurzer Zeit hat mich jedoch ein früherer Studierender, der inzwischen erfolgreich promoviert hat, darauf hingewiesen, dass dieser Text damals ohne Vorbereitung für die TeilnehmerInnen wenig verständlich war. Erst jetzt, wo er an der Lesereise teilnimmt, habe er den Text so richtig zu schätzen gelernt. Peinlich für mich: Aber auch spätes Feedback ist gutes Feedback .
Zwischenspiel-Text: ohne Vorkenntnisse schwer verständlich
Tatsächlich hat es dieser Text in sich: Zum Unterschied zu den anderen Kapitel – die ja auch nicht ganz einfach sind –, lässt sich das Zwischenspiel aber schwer reduzieren bzw. zusammenfassen. Es ist ein witzig geschriebener Diskurs, dessen inhaltlicher Gehalt erst mit einigen Vorkenntnissen zu erschließen ist. Nicht umsonst hat Latour diesen in sich abgeschlossenen Text in die Mitte des Buches platziert: Er fungiert als Ausklang und Zusammenfassung des ersten Teils und gleichzeitig als Ouvertüre für den kommenden zweiten Teil.
Ich versuche diesen schwierigen Text mit der "Hammer"-Methode beizukommen: Zerschlage den ganzen Argumentationsgang bis nur mehr einzelne Gedankensplitter übrig bleiben! Also eine Umkehrung dessen, was ich mit meinem Weblog intendiere: Nicht zuerst Gedankensplitter produzieren, die dann als Baumaterial für theoretische Überlegungen dienen können, sondern umgekehrt: Einen Text zerhacken, damit die zugrunde liegenden Gedankensplitter zum Vorschein kommen.
Allerdings sind die nun folgenden 10 ANT-Splitter natürlich mit extremer Vorsicht zu genießen, weil sie zu ihrem Verständnis die Texte zu den 5 Unbestimmtheiten voraussetzen. Die Grafiken ANT und Macht sowie Mittler, Mediator stammen von Marianne Ullmann, Text und Pfeile der Folie Theorie und Methode von mir)
10 ANT Gedankensplitter
- ANT ist ein negatives Argument. Sie sagt nichts Substantielles oder Positives über irgendeinen Sachverhalt aus. ANT ist eine negative Methode. und daher schwer "anzuwenden", weil sie nicht sagt, was genau zu tun, sondern eher zeigt, was nicht getan werden darf.
- ANT ist eine Theorie darüber, wie Dinge zu untersuchen sind, oder vielmehr, wie sie nicht zu untersuchen sind – oder vielmehr, wie man den Akteuren ein wenig Raum lässt, um sich selbst auszudrücken. ANT ist daher kein bloßes Werkzeug, das "nur" anzuwenden ist. Werkzeuge sind keine Zwischenglieder, sondern immer Mittler: Sie modifizieren stets die Zwecke, die man/frau im Sinn hat. (Siehe Grafik: Mittler, Mediator)
- ANT ist eine unglückliche Bezeichnung, die sich historisch ergeben hat. Statt Akteurs-Netzwerk Theorie sollte es besser heißen: Aktanten-Werknetz Theorie. Es sind nicht die Objekte die als Netzwerke zu verstehen sind (z.B. U-Bahn, Kanalisation Telefonnetz, Internet, Organisationen etc.). Es sind vielmehr die "vorgelagerten" Netzwerke menschlicher und nicht-menschlicher Aktanten, die interessieren. Es ist das Werk der Aktanten, ihre Arbeit und Bewegung, der Fluss und die Veränderung, die betont werden soll. Auch ein Haus kann mit ANT beschrieben werden (Siehe Grafik: Theorie + Methode).
- ANT ist wie eine Landkarte und nicht etwa das Land selbst. Es ist der Name des Zeichenstifts mit dem gemalt wird und nicht der Name der spezifischen Form, die gemalt bzw. gezeichnet wird.
- ANT ist im Beschreibungsgeschäft. Die Mantra lautet: Beschreiben, schreiben, beschreiben, schreiben. Der Text ist das sozialwissenschaftliche Pendant zum naturwissenschaftlichen Laborexperiment. Texte können – wie Experimente – auch scheitern. Sie scheitern dann, wenn sie das Akteur-Netzwerk nicht umfassend beschreiben und noch eine zusätzliche Erklärung brauchen oder einen darüber liegenden theoretischen Rahmen zu ihrer Interpretation brauchen.
- ANT produziert keine Erklärungen und keinen theoretischen Rahmen. Hingehen, zuhören, lernen, beschreiben, schreiben vulgo Feldforschung! Eine zusätzliche Erklärung, ein darüber gelegter theoretischer Rahmen etc. ist entweder redundant oder füllt bloß Leerstellen aus. "Context stinks". Die Akteure machen selbst ihren Rahmen, ihre Erklärungen.
- ANT wendet sich gegen interpretative Soziologie und Strukturalismus. Interpretationen fügen der Sache etwas hinzu (eine neue Interpretation) und wenden sich vom untersuchenden Objekt ab. ANT verlangt die (eigene) Hermeneutik bleiben zu lassen und zur Beschreibung des Objekts (das auch Menschen in ihren Diskursen sein können) zurückzukehren. Im Strukturalismus sind Akteure nur Platzhalter für eine strukturalistische Erklärung. Sie erfüllen bloß eine Funktion und sind ersetz- und austauschbar. In ANT ist ein Akteur gerade das, was nicht ersetzbar ist, ein einzigartiges Ereignis. Eine Fallstudie, die einen zusätzlichen Rahmen oder eine zusätzliche Struktur braucht, in der sie eingeordnet werden kann ist als Fallstudie bereits schlecht gewählt. Sie ist bloß "ein Fall von" einem anderen Zusammenhang, den es eigentlich zu untersuchen gilt.
- ANT ist gut zur Erforschung neue Sachverhalte. VIele Sozialtheorien sind gut darin substantielle Dinge über die soziale Welt zu sagen. Das funktioniert aber nur dann, wenn sich die Zutaten bekannt sind, die Dinge nicht rasch verändern und die Grenzen nicht verschwinden. Dann können "Erklärungen" als Abkürzungen von umfangreichen Beschreibungen hilfreich sein.
- ANT verbindet Objektivität mit Relativität. Das Objekt ist mannigfaltig und wird dementsprechend durch die Akteure von verschiedenen Perspektiven bzw. Standpunkten beschrieben = Objektivität = zurück zum Objekt = zurück zum Empirismus. Es ist das Objekt selbst, das Vielfalt hinzufügt, d.h. "versammelt". Den Akteuren folgen heißt daher auch sich von einem Standpunkt bzw. Bezugsrahmen zum nächsten zu bewegen = Relativität.
- ANT lernt von den Akteuren und stellt sich daher nicht das Ziel den Erforschten beizubringen, wie die Welt "wirklich" zu verstehen ist. ANT entdeckt weder eine geheime Struktur noch will es die Erforschten über die "wahren" Ursachen aufklären. ANT fügt den Beschreibungen der Akteure bloß eine weitere Beschreibung hinzu. Wenn diese Beschreibung nicht nur für die ForscherInnen sondern auch für die Akteure selbst relevant ist, dann war der Text ein riesiger und seltener Erfolg. (Siehe Grafik: ANT und Macht)
Re:GLL-07: Wozu Akteur-Netzwerk-Theorie?
Posted by Vohleat Dec 13, 2009 04:59 PM
Kobooko: Bücher erzählen ihre Geschichte
Ich versuche weiter „Anwendungsfälle“ zur ANT-Theorie zu suchen oder Transferideen zu erproben etc. Latour rät davon ab - ich weiß - oder er verbreitet zumindest keine große Hoffnung im Sinne einer klassichen Anwendung der Theorie (siehe das Zwischenspiel). Zu früh aufgeben gilt aber nicht.
Heute habe ich ein tolles Beispiel bei Helge Staetler gefunden, eine „Erfindung“, die gut (wie ich meine) zu den ANT-Kriterien passt. Im Latourtext selber wurden die neuen TECHNOLOGIEN angesprochen, die helfen können, „Spuren“ nachzuzeichnen. Helges Beispiel greift die neuen Technologien auf und verbindet diese mit der japanischen Kobooko Methode. Also, das Beispiel von Helge findet sich hier: http://www.ifeb.uni-bremen.de/wordpress_staedtler/wp-upload/Kobooko_v3_web.pdf (unbedingt durchlesen!)
Warum passt Helges Erfindung „Bücher erzählen ihre Geschichten“ nun zu Latour?
"1. Entstehungsstätten besuchen: Der Besuch von Entstehungsstätten beschränkt sich nicht auf Labors, wie es Latour in Laboratory Life vorgezeigt hat. Eine der Vorteile zeitgenössischer Wissenschaft und Technologie ist es, dass wir überall, sozusagen auf Schritt und Tritt, auf Handlungsverläufe, d.h. auf Bewegungen und Prozesse stoßen, wo wir die Entstehung der Tatsachen mitverfolgen können.
2. Wie bei den anderen Unbestimmtheiten stellt Latour eine Liste von 4 Forschungsstrategien zusammen, wie der Prozess des Versammelns (der Assoziation) verfolgt werden kann. Zum Unterschied von den anderen beiden Unbestimmtheiten (Gruppen und menschlichen Handlungsträgern) können nicht selbst reden. Daher müssen spezifische Tricks erfunden werden, damit Dinge in die Lage versetzt werden Beschreibungen ihrer selbst (=Skripte) anbieten."
Mit der Anwendung von Helges Erfindung würde sich auch der Berichts-TYP!!! ändern: von meinem Erstversuch einer subjektiven Beschreibung einer Szene (siehe riskante Berichte) zu einem Skript, indem Akteure, Aktanten, Mittler und Zwischenglieder dislokale Handlungesstränge - hier aus der Perspektive des Buches - „abbilden“ und verdichten.
Frank