Im Jänner 2016 wurde mit dem Arbeitspapier "Digitale Lernszenarien im Hochschulbereich" eine Systematik digitaler Lernformate vorgelegt. 1 Das hat mich vor allem in Zusammenhang meiner eigenen "Taxonomie von Unterrichtsmethoden" 2 interessiert. Auf die Idee einer kritischen Diskussion der "Ordnungsversuche" im Lichte meiner eigenen Überlegungen hat mich der Blogbeitrag Lehre auf neuen Wegen von Jochen Robes gebracht. Darin bespricht er meinen gleich lautenden Bloghinweis, wo ich auf meinen aufgezeichneten Vortrag im Rahmen einer eDidaktik-Tagung an Universität Göttingen hingewiesen habe.
"Digitale Lernszenarien im Hochschulbereich" hat 57 nationale und 188 Fallstudien und -beispiele gesammelt und auf Grundlage ähnlicher Merkmale und Dimensionen zu acht Lernszenarien ausgewertet: Anreicherung, Integration, Online-Lernen, Interaktion und Kollaboration, Offene Bildungspraxis, Spiel und Simulation, Personalisierung, Selbststudium.
Digitalisierte Lernelemente und -formate
Im ersten Teil werden im Rahmen einer Bestandsaufnahme verschiedene digitalisierte Lernformate beschrieben. Dieses Kapitel war für mich aus zwei Gründen sehr enttäuschend:
Erster Kritikpunkt: Es werden entgegen der Behauptung und dem eigenen Anspruch für diesen umfangreichen Teil, der immerhin ein Drittel des Textes ausmacht (= 40 Seiten, Seite 12-52) keine didaktischen Kriterien zur Gliederung herangezogen. Obwohl ausdrücklich angemerkt wird, dass die Studie von einem handlungsorientierten Ansatz ausgeht (S.14) und insbesondere nach dem Grad der Interaktion, dem Grad der Virtualität sowie der Individualisierung kategorisiert (ebd.), wurden für diesen Teil einzig die Unterscheidung nach Kategorien der Digitalisierung vorgenommen: Entsprechend lauten auch die Überschriften und Unterkapitel:
- Digitalisierte oder teilweise digitalisierte Lernelemente:
- Vorlesungsaufzeichnung (Live-Digized-Lecture)
- Freie Lernmaterialien (Open Educational Resources)
- E-Portfolio
- Digitalisierte oder teilweise digitalisierte Lernformate
- Game-based Learning
- Inverted Classroom
- Mobiles Lernen
- Nutzung sozialer Medien
- Online-Peer- und kollaboratives Lernen
- Adaptives Lernen
- Digitalisierte Wirklichkeit
- Augmented Reality
- Simulationsgestützes Lernen
- Virtual Reality
- Onlinebasierte Veranstaltungsformate und Studiengänge
- E-Lecture (Office oder Studio-Setting)
- Online-Seminar
- Open Course und MOOC
- Online-Studiengang
Zweiter Kritikpunkt: Es fehlt den 16 kurzen Beschreibungen an inhaltlicher Tiefe, sodass dieser Berichtsteil bei einer recht oberflächlichen Darstellung verschiedener digitalisierter Lehrformate stehen bleibt. Dieser Schwachpunkt ergibt sich meiner Meinung nach naturgemäß aus der oben getroffenen Entscheidung, Formen der Digitalisierung und nicht didaktische Kriterien zum Ausgangspunkt der Beschreibung zu machen. Dementsprechend verkommt dieser Teil zu einer anekdotischen, unsystematischen, teilweise sogar recht willkürlichen Aufstellung, der es sowohl an analytischer Tiefe als auch an theoretischer Erkenntnis fehlt.
Um mögliche Missverständnisse zu vermeiden: Ich kritisiere nicht, dass eine Darstellung verschiedener digitalisierter Lehr- und Lernformate nicht auch einen wichtigen Zweck erfüllen könnte. Selbst wenn es an einer durchgehenden Systematik mangelt, wäre eine solche Zusammenstellung sinnvoll! Dazu müssten aber – und das ist der springende Punkt – entsprechende Unterschiede der Formate mit ihren Folgen und Konsequenzen mit Hilfe von Erläuterungen und Querverweisen ausführlich erklärt und diskutiert werden. Das was mit "Digitale Lernszenarien im Hochschulbereich" vorliegt, bringt jedoch einerseits für Expert/innen keine neuen Gedanken und ist andererseits für wenig erfahrene Personen zu allgemein und oberflächlich beschrieben.
Merkmale und Dimensionen
Für die anderen beiden Dritteln des Arbeitspapiers trifft jedoch die obige Kritik nicht zu. Ab Seite 53 wird über strukturierende Elemente von Lehr- und Lernformaten nachgedacht: Zuerst einmal wird zwischen Merkmalen und Dimensionen unterschieden. Die Unterscheidung basiert darauf, dass Merkmale nur nominal (qualitative unterschiedliche Inhalte), Dimensionen hingegen ordinal (Grad der Ausprägung) klassifiziert werden können.
- Merkmale: Lehr-/Lernziel, Zielgruppe, Lernumgebung, curriculare Einbettung
- Dimensionen: Lehrenden-/Lernendenrolle, Grad der Interaktion, Grad der Virtualität, Räumliche und zeitliche Flexibilität, Grad der Medialität, Individualisierung, Granularität, Kosten- und Arbeitsaufwand
Diese Unterscheidung halte ich für extrem wertvoll. Wenn ich hier nachfolgend trotzdem kritische Anmerkungen dazu mache, dann ist dies im Sinne eines konstruktiven Diskurses zu verstehen, einer offenen Diskussion, wo noch vieles unklar ist, erforscht und überlegt werden muss. Ich erlaube mir dabei manchmal auf mein Buch "Taxonomie von Unterrichtsmethoden" zu verweisen, das leider nicht in die Diskussion des Arbeitspapiers einbezogen wurde. Trotz dieser persönlichen Verstricktheit und der damit fehlenden Neutralität, versuche ich aber nicht in erster Linie meine Argumente bloß zu verteidigen, sondern in einer kritischen Reflexion beider Arbeiten etwas zu lernen. Das wird insbesondere im letzten Abschnitt dieses Beitrags hoffentlich recht deutlich.
Merkmale: Gibt es nicht auch ordinale Aspekte von "Merkmalen"?
Um meine Überlegungen zur obigen Trennung von Merkmalen und Dimensionen besser darstellen zu können, ziehe ich als Beispiel das Merkmal Lehr-/Lernziel heran:
Tatsächlich gibt es – inhaltlich gesehen – unendlich viele unterschiedliche Lehr- und Lernziele. Hier spielen natürlich sowohl das Fachgebiet selbst, als auch der Kanon der darin adressierten Inhalte eine entscheidende Rolle. Trotzdem lassen sich jedoch auf einer abstrakteren Ebene Ausprägungen und damit ordinale Ordnungskriterien auffinden. Sie werden im Abschnitt Lehr-/Lernziel (53/54) sogar direkt angesprochen, wie z.b. Bezüge zum "Deutschen Qualifikationsrahmen" (DQR), oder der Nationale Qualifikationsrahmen (NQR) von Österreich, die beide acht Niveaus kennen, oder Bezüge zur kognitiven Taxonomie, die sechs unterschiedliche Niveaus kennt 3 (siehe dazu ausführlich mein Kapitel 2 der "Taxonomie von Unterrichtsmethoden" (2.1 MB).
Ähnliche Argumente lassen sich auch für die anderen Merkmale anführen: Die Zielgruppe könnten beispielsweise nach den acht Kompetenzniveaus, nach denen sich die Qualifikationen des deutschen Bildungssystems zuordnen lassen, sortiert werden. Auch eine Gliederung nach konsekutiv, nicht-konsekutiv oder weiterbildende Studiengänge wäre überlegenswert und könnte vielleicht interessante Anhaltspunkte für die Zweckmäßigkeit unterschiedlicher Szenarien mit sich bringen.
Auch bei der Diskussion der Lernumgebung, was übrigens fatalerweise auf das verwendete Learning Management System (LMS) reduziert wird, ließen sich – unabhängig von dem verwendeten Produkt – Ausprägungsgrade unterscheiden, wie sie in dem betreffenden Abschnitt auch angeführt sind: z.B. Administration und anspruchsvollere Funktionalitäten. (Das ließe sich gerade im Hinblick auf die LMS-Integration der Lehr-/Lernszenarien durchaus noch weiter unterteilen.)
Detto bei der curricularen Einbettung, wo schon die Frage, in welchem Grad das Szenario überhaupt curricular eingebettet ist, einen möglichen Ordnungsversuch darstellen könnte. Völlig unverständlich für mich ist es, dass zugrunde liegende lerntheoretische und didaktische Ansätze (z.B. Kognitivismus, Konstruktivismus etc.) unter der Überschrift der curricularen Angebote erwähnt werden.
Zusammenfassend lassen sich zweierlei Kritikpunkte anführen:
- Einerseits werden die Kategorien der Merkmale nicht näher und detaillierter betrachtet und dadurch verschiedene – didaktisch wichtige Aspekte – vermischt. So z.B. wenn unter Lehr-/Lernziele zwei so unterschiedliche Instrumente, wie der DQR und die Bloomsche Taxonomie, subsumiert werden. Damit wird aber gerade eine grundlegende Idee jeder Taxonomie – nämlich ein systematisches Ordnungssystem zu entwickeln – unterlaufen.
- Andererseits ist die Unterscheidung zwischen Merkmalen und Dimensionen, wie sie im Arbeitspapier vorgenommen wurde, nicht unbedingt schlüssig. Bei näherer Betrachtung lassen sich nämlich durchaus auch ordinale Skalen bei den Merkmalen generieren. Ich habe diesen Ansatz in der "Taxonomie von Unterrichtsmethoden" bei der Erstellung von 26 Dimensionen mit jeweils fünf Ausprägungsgraden exemplarisch dargestellt.
Dimensionen: Warum gerade acht und wo sind die Grade der Ausprägungen?
Auch in diesem Abschnitt gibt es einige Ungereimtheiten anzumerken: Einerseits werden verschiedene Dimensionen miteinander gemischt: So z.B. wenn Raum und Zeit zusammen als "räumliche und zeitliche Flexibilität" abgehandelt werden. Andererseits würde man erwarten, dass nach der prinzipiellen Unterscheidung zwischen Merkmalen und Dimensionen auf Grundlage nominaler/ordinaler Skalen, bei der Darstellung der Dimensionen nun die ordinalen Ausprägungen systematisch beschrieben werden. Das ist aber leider nicht der Fall. Zudem wird mit der Dimension "Kosten- und Arbeitsaufwand" ein weiteres Kriterium in die Diskussion eingeführt, das für eine didaktische Strukturierung keine Bedeutung hat.
Aus meiner Sicht fehlt den Autor/innen ein didaktisches Kategorialmodell als Grundlage einer systematischen Auseinandersetzung mit Dimensionen und Ausprägungen davon. Es wird zwar kurz erwähnt, dass es verschiedene Klassifikationsmodelle gibt, die nach (a) digitalen Komponenten (b) ausgewählten Dimensionen oder (c) mittels eines Würfel- oder Baukastenmodell die didaktische Vielfalt strukturieren (S13f.); eine – aus meiner Sicht notwendige – intensive Auseinandersetzung mit diesen unterschiedlichen Ansätzen bleibt aber aus.
Digitale Lernszenarien
Im letzten großen Kapitel (S.61-91), bevor die Zusammenfassung mit den Handlungsoptionen dargestellt wird (S.92-96), werden die eingangs erwähnten 16 aus der Literatur gewonnenen digitalisierten Lernelemente und -formate zu den ebenfalls bereits erwähnten acht Lernszenarien zusammengefasst.
Im Kontrast zu meinen bisherigen kritischen Anmerkungen gefällt mir dieser abschließende Teil des Berichts jedoch ausgezeichnet. Der Grund meiner positiven Wahrnehmung ist jedoch weniger inhaltlicher, sondern vielmehr methodischer Natur: Die in diesem Beitrag erwähnten analytischen Schwierigkeiten bzw. Unzulänglichkeiten der kategorialen Gliederung, können natürlich mit einer darauf aufbauenden Synthese und Integration nicht überwunden, sondern nur verfestigt werden.
Allerdings möchte ich die methodische Idee dieser Integrationsbemühung zustimmend hervorheben: Nach einer Kategorialisierung von insgesamt zwölf Merkmalen und Dimensionen werden diese Aspekte nicht bloß kommentarlos zu acht verschiedenen Lernszenarien verdichtet. Zuerst wird nämlich das Profil des Lernszenarios beschrieben und danach werden tabellarisch charakteristische Merkmale und Dimensionen dafür spezifiziert und dann auch noch gesondert die Stärken, Schwächen, Chancen und Risken dieser Lernarrangements angeführt.
Ich halte diese methodische Idee für nachahmenswert. Diese Verdichtung (und Konkretisierung) ist gerade jener Teil, an dem es meiner "Taxonomie von Unterrichtsmethoden" mangelt. Ich habe zwar im zehnten und letzten Kapitel eine ausführliche und praxisorientierte Diskussion der 20 Modelle von Flechsig an Hand meiner Dimensionen geführt, aber mein Ziel dabei war es vor allem, die theoretische Tragfähigkeit meines Ansatzes der didaktischen Vielfalt exemplarisch aufzuzeigen. Abgesehen davon, dass viele Leser/innen leider nicht bis zum zehnten Kapitel durchgedrungen sind, habe ich keine Verdichtung zu praktisch einsetzbaren Konfigurationen für Lehr-/Lernszenarien vorgenommen. Das ist leider eine große Schwäche meines Buches und wohl auch der Grund dafür, dass es von Teilen der E-Learning Community nicht diskutiert und wahrgenommen wird.
Ich habe mir daher schon mehrmals überlegt, dass ich in einem Folgeband meiner "Taxonomie von Unterrichtsmethoden" vor allem praktische Ansprüche bedienen und mit vielen umfassenden Fallstudien die Potenziale didaktischer Vielfalt ausführlich und konkret aufzeigen möchte. Das fünfte Kapitel von "Digitale Lernszenarien im Hochschulbereich" zeigt mir einerseits die Notwendigkeit, dies sowohl systematisch stimmig und analytisch begründet zu tun, andererseits aber auch, dass es unbedingt notwendig ist, die vielen theoretischen Überlegungen in der "Taxonomie" mit Fallbeispielen praktisch anschlussfähig zu machen.
In diesem Sinne war das hier rezensierte Arbeitspapier 15 der Themengruppe "Innovationen in Lern- und Prüfungsszenarien" für mich nicht nur eine wertvolle Hilfe sondern vor allem eine (weitere) Motivation endlich diesen – schon seit langem geplanten – Folgeband in Angriff zu nehmen!
Literatur
Fußnoten
- Wannemacher, Klaus; Imke Jungermann; Julia Scholz; Hacer Tercanli und Anna von Villiez. 2016. „Digitale Lernszenarien im Hochschulbereich“. In Hochschulforum Digitalisierung Arbeitspapier 15: Januar 2016: 114 Seiten. http://www.his-he.de/pdf/pub_hfd_digitale_lernszenarien.pdf (1.7MB). (Zugegriffen: 7. Februar).
- Baumgartner, Peter. 2011. Taxonomie von Unterrichtsmethoden: ein Plädoyer für didaktische Vielfalt. Münster: Waxmann.
- Anderson, Lorin W und David R Krathwohl. 2001. A Taxonomy for Learning, Teaching, and Assessing: A Revision of Bloom’s Taxonomy of Educational Objectives. New York: Longman.
3 Antworten auf „Digitale Lernszenarien“
[…] Mein Eindruck: Ohne eine tragfähige Systematik von Lehr- und Lernszenarien bleibt eine Sammlung digitaler Lernszenarien schnell stecken. Das zeigen nicht zuletzt die “Merkmale und Dimensionen”, mit denen das Arbeitspapier arbeitet. Peter Baumgartner, Gedankensplitter, 7. Februar 2016 […]
[…] Auch über soziale Netzwerke wie Facebook, Twitter oder Google plus können Sie auf dem Laufenden bleiben. The role technology plays in the knowledge creation process. Aktuelle Studien rund ums Thema E-Learning (2015) Michel, Lutz P. (2015). Digitale Lernszenarien – Gedankensplitter. […]
[…] aus Krems zusammengeführt. Peter Baumgartner, das zum Hintergrund, hatte sich kürzlich auf seinem Blog kritisch mit der Studie auseinandergesetzt. Das Webinar hat zu Beginn einige Längen, wird dann […]