Letzte Woche habe ich Surviving Autocracy von Masha Gessen gelesen. Das Buch ist für mich hier auf diesem Blog vor allem wegen der darin dargelegten Rolle von Sprache bedeutsam. Ich habe schon mehrmals aus konstruktivistischer Sicht über die Funktion von Sprache zur Beschreibung von Realität und damit auch für den Lernprozess geschrieben.
Aus der mich hier interessierenden Sicht wird die wesentliche Argumentation des Buches durch folgendes Zitat zusammengefasst:
Lüge versus Fakten-Check
Durch die Verdrehungen und vor allem Lügen von Trump werden Bedeutungen von Wörter des politischen Diskurses wie "Demokratie", "Wahl", "frei" usw. völlig ihres Sinns entleert (loc. 842). Sorgfältiges überprüfen der Fakten hat gegen seine wiederholten Lügen keine Chance: Der Fakten-Check erfolgt zwar gründlich aber nur einmal. Trump hingegen setzt seine Lügen unverfroren fort und besetzt damit siegreich die Bühne des politischen Diskurses (loc. 1174). Statt Trumps Konstruktion der Realität zu zerstören oder zumindest zu hinterfragen, dient der Fakten-Check bloß als Einfallstor für seine Lügen in die öffentliche Diskussion. Oder noch schlimmer: Mit einer detaillierten (Re-)konstruktion der Wahrheit liegen Fakten und Lügen gleichberechtigt nebeneinander und die von Trump geäußerten Absurditäten bestimmten die tägliche politische Diskussion.
Die von Trump geschaffene Realität schafft Stress und führt bei vielen Menschen entweder dazu sie letztlich – im Sinne der Auflösung kognitiver Dissonanz – zu akzeptieren. Oder aber die von ihm geschaffene Realität wird ignoriert und die Menschen ziehen sich aus dem politischen Geschehen zurück. In beiden Fällen hat Trump seine Lügen als Realität durchgesetzt.
Lügen als System
Gessen meint daher, dass mit keiner noch so detaillierten Argumentation das Tauziehen um die Trump'sche Sprache gewonnen werden kann. Statt Trumps Äußerungen als Nachrichten zu diskutieren, müssen seine Äußerungen als autokratisches System, das demokratische Institutionen angreift, gedeutet werden. Kritische Journalisten müssen sich dementsprechend außerhalb dieses Systems positionieren, wie es beispielsweise etwa Kabarettisten oder die Aktionen des Lincoln Project tun.
Die häufig zur Schau gestellte Dummheit von Trump wird oft als Argument herangezogen, warum Trump zwar schädlich ist, aber nicht so brandgefährlich ist, dass er tatsächlich die demokratischen Institutionen zerstören kann. Das ist für Gessen ein katastrophaler Irrtum:
Autokratische Transformation
Gessen bezieht sich auf Bálint Magyar, der in Post-Communist Mafia State: The Case of Hungary drei Phasen der autokratischen Transformation entwickelt:
- autocratic attempt,
- autocratic breakthrough,
- and autocratic consolidation.
Es ist für mich nicht ganz klar, in welcher Phase Gessen die heutige USA unter Trump sieht. Sicherlich bereits in Phase 1, aber wahrscheinlich noch nicht in Phase 2. Soweit ich es den Geist des Buches entnehme, dürfte die USA nach Gessen im Übergang von Phase 1 zu Phase 2 sein.
Gessen geht davon aus, dass der von Trump geführte sprachliche Angriff gefährlicher ist als es seine Attacken auf die Demokratie und ihre Institutionen sind. In der Post-Trump'schen Ära wird es daher nicht nur darum gehen, die demokratischen Institutionen wieder herzustellen. Einerseits deswegen, weil sie auch schon vor Trump schwach und anfällig, d.h. nicht besonders demokratisch waren, andererseits aber auch weil die Bedeutung von Wörtern im politischen Diskurs neu etabliert werden muss.