Tutorials als Schritt-für-Schritt-Anleitungen
Oliver Tacke hat sechs Video-Tutorials zu H5P produziert. Beim Nachvollziehen des ersten Videos (dem anspruchsvollsten Part aller sechs Videos der Reihe) sind mir als Lernenden, einige didaktisch interessante Phänomene aufgefallen, über die ich hier reflektieren möchte.
Obwohl ich hier auf die oben erwähnten H5P-Videos Bezug nehme, ist dies nur als Beispiel und zur Illustration gedacht. In diesem Beitrag denke ich über didaktische Mehrdeutigkeiten von Tutorials nach. Ich plädiere für eine differenziertere Begrifflichkeit um falsche Erwartungshaltungen zu vermeiden.
Sucht man nach Definitionen des Begriffs "Tutorial", dann erhält man meistens zwei Arten von Erklärungen:
- Der eine Argumentationsstrang stellt ein "How-To", eine schriftliche oder filmische Gebrauchsanleitung in den Mittelpunkt und betont manchmal auch den Schritt-für-Schritt Charakter einer Handlungsanleitung (z.B. Wikipedia, Wortbedeutung.info, Duden Merriam-Webster, aber auch Praxis-Seiten wie ONMA Online Marketing).
- Die andere Sichtweise betont die Lehre (Instruction) von Einzelpersonen oder Kleingruppen (z.B. Oxford Lexico, YourDictionary, Merriam Webster).
Ich konzentriere mich hier auf die erste Art der Definition und möchte zeigen, dass es auch in Schritt-für-Schritt Tutorials drei unterschiedliche Spielarten gibt, die es zu unterscheiden gilt.
Die sechsteilige Videoreihe von Oliver Tacke steht unter dem Motto "Some insight on how H5P (https://h5p.org) works and how you can code for it." Gleich im ersten Video betont Oliver, dass es ihm nicht darum geht, H5P Programmierer auszubilden. Das kann und will er gar nicht erreichen. Seine Videos sollen in erster Linie einen groben Überblick geben, wie H5P Programmierung funktioniert.
Es fällt auf, dass sein Motto gleichzeitig zwei Dinge mit dem Video-Tutorial verknüpft: Einerseits Einsicht, wie H5P intern funktioniert, und andererseits wie Entwickler dafür programmieren können. Also einerseits Verständnis schaffen und andererseits Einsichten (nicht Fähigkeiten!) vermitteln, wie dafür programmiert werden kann.
Wenn ein Tutorial vermittelt, wie etwas funktioniert, dann ist damit noch nicht automatisch gesagt, dass auch intendiert wird, diese Schritte umsetzen bzw. anwenden zu können. Wissen, wie etwas funktioniert, heißt eben noch lange nicht, es dann auch tun zu können. Jemand weiß z.B. wie einen Autoreifen gewechselt wird, kann es aber aus Mangel an Kraft oder Geschicklichkeit nicht selbst tun.
Eine Sache Schritt-für-Schritt vorzuzeigen hat also – didaktisch gesehen – mindestens eine dreifache Mehrdeutigkeit. Solche Tutorials können helfen
- … einen Prozess zu veranschaulichen, um ihn besser verständlich zu machen.
- … einen Prozess detailliert vorzuzeigen, damit er nachvollzogen (imitiert) werden kann.
- … einen Prozess verständlich zu machen, damit er selbständig angewendet bzw. umgesetzt werden kann.
Tutorial 2a1: Einsicht vermitteln
Diese aufklärenden Videos zur H5P-Programmierung haben sich einige Besucher der monatlichen twitch.tv Sendungen von Oliver sehnlichst gewünscht. Auch ich habe Oliver mehrmals gebeten mehr Hintergrund-Infos zur H5P-Programmierung zu geben. Mein Ziel ist es natürlich nicht, mich in Zukunft als (H5P-)Programmierer zu betätigen. Vielmehr möchte ich mehr über die Entwicklungsperspektiven von H5P verstehen. Eine Frage, die mich z.B. umtreibt, ist:
Wieso sind nicht alle Inhaltstypen in Course Presentation und/oder Question Set integrierbar?
Auf diese Frage gibt der sechste Teil des Tutorial von Oliver eine sehr umfassende und differenzierte Antwort2. Die meisten Probleme sind bei Inhaltstypen zu finden, die nicht vom H5P-Kernteam entwickelt wurden. Sie funktionieren dann zwar wunderbar als Standalone Inhaltstypen, können aber nicht integriert werden, weil z.B.
- eine genormte Schnittstelle (Contract) fehlt, mit der Bibliotheken von zusammengesetzten Inhaltstypen untereinander kommunizieren können,
- die Abhängigkeiten der verschiedenen Programmteile nicht vereinheitlicht wurde,
- die verwendeten Versionen der Bibliotheken nicht übereinstimmen,
- keine Default-Werte für die Bewertung und Berechnung der Punkte gesetzt worden sind.
Als Methode der Erklärung verwendet Oliver in seinen Screencasts das Vorzeigen. d.h. eine Demonstration in seiner Entwicklungsumgebung. Beginnend mit dem ersten Videos setzt Oliver die folgenden drei Umgebungsbedingungen voraus:
- Installation eines lokalen Servers auf dem dem eigenen Rechner
- Installation von Drupal 7 (Es muss unbedingt Drupal 7 sein, weil es das derzeit beste Wirtssystem für H5P-Programmentwicklungen darstellt.)
- Installation des H5P-Moduls für Drupal
Es ist didaktisch ein üblicher und durchaus legitimer Ansatz verschiedene Voraussetzungen festzuhalten und für das eigene Tutorial auszuklammern. Irgendwo muss ein Tutorial ja ansetzen. Im übrigen ist es – philosophisch gesprochen – unmöglich voraussetzungslos etwas zu lehren bzw. zu lernen. Das habe ich in meiner Habilitationsschrift Der Hintergrund des Wissens mit Rückgriffe auf Philosophen wie Gilbert Ryle, Ludwig Wittgenstein, John Searle, Hubert Dreyfus und andere, aufgezeigt. Die Annahme eines voraussetzungslosem Lernens führt in einem endlosen Regress.
Das lässt ich gut auch am Beispiel von H5P zeigen. Wo soll begonnen werden? Bei H5P? Aber dann wird zumindest der Umgang mit einem Wirtssystem (WordPress, Drupal, Moodle etc.) bereits vorausgesetzt. Also bereits bei den Wirtssystemen? Dann werden zumindest allgemeine Computerkenntnisse bereits vorausgesetzt. Computerkenntnisse aber wiederum erfordern Sprachkenntnisse usw. usf.
Die obigen drei Installationsbedingungen vorausgesetzt, erklärt Oliver dann im ersten – und wie ich meine anspruchsvollsten – Video Schritt für Schritt wie aus diesen Ausgangsbedingungen eine H5P-Entwicklungsumgebung erstellt werden kann. Der erste Teil Oliver's Zielsetzung – Some insight on how H5P (https://h5p.org) works – ist aus meiner Sicht mit den Videos sehr gut gelungen.
Ich möchte noch anmerken, dass es interessant ist zu beobachten, wie Einsichten bzw. Verständnis von Prozessen zunehmens über Schritt-für-Schritt-Demonstrationen vermittelt wird. Das ist kein Zufall: Bei den oben genannten neueren Definitionen zum Begriff "Tutorial" lässt sich bereits eine Affinität zu Medien wie Software und Computer deutlich erkennen.
Tutorial 2b: Prozesse verstehen
Schritt-für-Schritt-Demonstrationen erwecken den Eindruck, dass die darin vollzogenen Tätigkeiten nachvollzogen werden können. Zum Unterschied von einer selbständigen Anwendung spreche ich hier von nachahmen bzw. imitieren, also einer Tätigkeit, die einem vorgezeigtem Muster folgt. Das ist für Tutorials eine ständige Herausforderung, weil es für die Vermittlung einer Einsicht scheinbar nicht unbedingt notwendig ist, die einzelnen Schritte auch alle tatsächlich reproduzieren zu können.
Ich glaube, dass die Erwartungshaltung bei einer Schritt-für-Schritt Erklärung diese Prozedur auch kopieren zu können, nicht überzogen ist. Im Gegenteil: Für das Verständnis einer Prozedur ist es sogar oft eine Voraussetzung, dass die einzelnen Phasen selbst durchlaufen bzw. nachgeahmt werden. Solche Übungen oder Trainings helfen die Einsicht (körperlich) zu integrieren und sind bei der Mustererkennung (d.h. dem späteren Wiedererkennen des Problems) äußerst wichtig.
Ich empfehle daher selbst bei Tutorials, die auf Einsicht fokussieren, die einzelnen Schritte so anzugeben, dass sie bei Interesse und Wunsch auch nachvollzogen werden können. Um nicht in die Falle des endlosen Regresses zu verfallen, kann wiederum auf die notwendigen Vorkenntnisse verwiesen werden. Eventuell können solche allgemeinen Hinweise bzw. Einschränkungen sogar mit Links zu Quellen (Tutorials), wo solche Kenntnisse angeeignet werden können, ergänzt werden. Ob mit Link oder ohne: Ich halte es für wichtig auf Lücken in der Schritt-für-Schritt-Anleitung explizit hinzuweisen. Damit wird eine Soll-Bruchstelle markiert und deutlich, dass nicht eine komplette Handlungsanleitung zur Reproduktion vermittelt wird.
Meiner Ansicht nach genügt der erste Teil des Video-Tutorials von Oliver dieser Anforderung nicht immer. So wird beispielsweise erklärt, dass npm (ehemals Node Package Manager) benötigt wird, gleichzeitig aber git und der Umgang mit dem Terminal vorausgesetzt. Das war zwar in meinem konkreten Fall kein Problem, weil ich dazu schon Erfahrung hatte, ist aber aus meiner Sicht in diesem ersten Video-Tutorial inkonsistent.
Wieso eigentlich? Oliver betont ja ausdrücklich, dass er keine Programmierer ausbilden will und auf meinen Hinweis argumentiert er seine Position im YouTube-Forum nochmals ausdrücklich:
As I explained right in the beginning, this video will neither turn you into a developer (not my intention) nor will it explain every potential detail of dev ops (not my intention). It's an overview of what you may need when you develop for H5P. I am well aware that some people will have trouble following, but I am sorry to (arrogantly) say: I don't care (anymore). There are tons of tutorials on hot to use git, on setting up web servers, on installing Drupal, and I don't see the point in creating yet another one.
Forumsbeitrag von Oliver in HP5 Tutorials: Coding Basics Overview
Aber diese Antwort hat nicht ganz die Intention meines Kommentars getroffen. Es ging mir nicht in erster Linie darum auf fehlende Infos aufmerksam zu machen, sondern auf eine Inkonsistenz hinzuweisen: Aus meiner Perspektive hätte auch npm nicht erklärt werden müssen/sollen. Ich sehe diese Kenntnis auf der selben Stufe wie die Installation von git.
Das bringt mich zur allgemeinen Schlussfolgerung: Um Handlungsanleitungen folgen zu können, braucht es ein konsistentes Niveau von Voraussetzungen. Das ist nicht trivial, weil es weder klare Definitionen für die verschiedenen Niveaus gibt und schon gar nicht eine Liste aller darunter fallenden Kenntnisse und Fähigkeiten. Aber so wie wir es bereits gewohnt sind, auf Voraussetzungen zu verweisen, bevor wir mit den Tutorials beginnen, so sollten wir auch daran denken, solch expliziten Verweise auch innerhalb von Tutorials zu geben. Und – hier schließt sich mein Kreis der Argumentation: Ich bin der Auffassung, dass Schritt-für-Schritt-Anleitungen prinzipiell immer – also auch wenn sie auf Einsicht fokussieren – die Möglichkeit des Nachvollziehens (im Sinne einer Nachahmung bzw. Imitation) ins Auge fassen sollten. Und wenn es nur der Hinweis ist, dass für eine Reproduktion diese und jene Kenntnisse dabei vorausgesetzt werden.
Tutorial 1: Prozesse nachvollziehen, aber nicht verstehen
Umgekehrt gibt es viele Tutorials als Schritt-für-Schritt-Anleitungen, denen es nur um eine gelungene Nachahmung der Handlung und nicht auch um Verständnis und Einsicht geht. Aber auch das halte ich für eine legitime Vorgangsweise! Manchmal möchte ich nur ein aufgetretenes Problem lösen, um meine Arbeit fortsetzen zu können. Eine tiefergehende Erklärung interessiert mich dabei (vorerst?) nicht.
Allerdings hat dieses reduzierte Anspruchsniveau den wesentlichen Nachteil, dass ich nur ganz genau die Schritte nachvollziehen kann und bei jeder kleinen Abweichung die Gefahr des Scheiterns virulent wird.
Weil ich die von Oliver vorgezeigten Schritte nachvollziehen wollte, musste ich nach Tutorials suchen, wie ich seine drei oben genannten Installations-Voraussetzungen umsetzen konnte. Ich habe dabei zwei Anleitungen gefunden, die meine Überlegungen gut illustrieren:
MAMP-Server für Drupal 7 installieren: Dieser Video ist ein sehr gutes Tutorial, wie MAMP (My Apache, MySQL und PHP) installiert und für Drupal 7 konfiguriert werden kann. MAMP ist eine Software für das einfach Installieren (One-Click Solution) einer lokalen Serverumgebung für mein Betriebssystem macOS. Das Tutorial deckt also genau meinen spezifischen Anwendungsfall ab. Ich wurde jedoch mit dem Problem konfrontiert, dass die Benutzeroberfläche für MAMP sich inzwischen ziemlich gravierend geändert hat. Die Anleitung war also nicht ident mit meiner aktuellen Situation. Obwohl die Installation zwar tatsächlich eine "One-Click Solution" war, war die Konfiguration des Servers komplizierter. Dazu kam noch das Problem für mich, dass ich bereits vor Jahren zum Testen von WordPress MAMP lokal installiert hatte und sich jetzt die verschiedenen Softwareversionen von MySQL und PHP in die Quere gekommen sind.
Local Web Server Setup: Durch Internet-Recherche habe ich dann erfahren, dass eine MAMP-Installation für neuere macOS-Versionen gar nicht mehr notwendig ist, weil der Apache-Server bereits im Betriebssystem enthalten ist. Die von mir gefundene Anleitung greift zwar tief in alle möglichen Konfigurationsdateien ein und verlangt auch den Umgang mit dem Terminal, ist aber so extrem detailliert, dass ich keine Mühe hatte, alle Schritte erfolgreich zu reproduzieren. Allerdings hatte ich dann eine Serverinstallation, von der ich absolut nichts verstanden habe. So habe ich z.B. nicht gewusst, wie ich die Verbindung mit Drupal 7 herstellen soll.
Letztlich bin ich dann – nachdem ich alle alten inkompatiblen Software-Versionen gelöscht hatte – das waren dann noch weitere Tutorials! – doch wieder zum MAMP-Drupal-Video zurück gekehrt. Schließlich konnte ich dann doch die drei erforderlichen Installationsvorgänge erfolgreich abschließen.
Mit diesem Bericht wollte ich illustrieren, dass eine verständnislose Nachahmung – selbst wenn sie eine extrem detaillierte Schritt-für-Schritt-Anleitung darstellt – nur genau auf einen einzigen Anwendungsfall passt und bei kleinen Variationen bereits scheitern kann,
Tutorial 3 und höher: Prozesse selbständig anwenden können
Prozesse nicht nur nachahmen, sondern auch selbstständig unter wechselnden Voraussetzungen anwenden zu können, ist drittes Ziel und damit eine weitere Variante bei der Entwicklung von Tutorials. Bei dieser Art von Tutorials wird häufig die Schritt-für-Schritt Anleitung mit zum Teil recht umfangreichen Diskursen über Grundlagen, Zusammenhänge und Wechselwirkungen ergänzt. Es wird nicht mehr bloß das Wie (Stufe 1), oder das Warum (Stufe 2) sondern auch das Wozu und Wofür (Stufe 3) erklärt3.
Auf die von Anderson und Kollegen adaptierte Bloom'sche Taxonomie umgelegt, entsprechen die drei Arten von Tutorials den ersten drei Stufen des Kategorialmodells: reproduzieren, verstehen, anwenden. (Zu diesen Begriffen siehe genauer mein zweites Kapitel aus Taxonomie von Unterrichtsmethoden.)
Die Doppeldeutigkeit auf der Stufe 2 (Verstehen) lässt sich bereits aus dem häufig verwechselten bzw. mißverstandenen Ebenen B und C (konzeptionelles und prozedurales Wissen) entnehmen. Prozedurales Wissen ist so wie konzeptionelles Wissen immer noch eine theoretische Wissensart. Ich weiß, wie es geht, kann es aber z.B. (noch) nicht.
Auch in meinem darauf aufbauenden Theoriebuch "Taxonomie von Unterrichtsmethoden" habe ich diese Doppeldeutigkeit festgestellt. Besonders die ersten 3 Stufen (1, 2a und 2b) sind für die Beschreibung von Schritt-für-Schritt-Tutorials wesentlich. Obwohl ich mit den Praxisbeschreibungen und dem doppelte Zugang auf Stufe 2, den Muster- und Modellbeschreibungen bereits einen dreifachen Zugang für Prozesse hergestellt hatte, war mir damals noch nicht der hier beschriebene konkrete Zusammenhang bei der Umsetzung von Tutorials bewusst.
Vor allem war für mich im Verständnis neu, dass Tutorials als Schritt-für-Schritt-Anleitungen auch für die Vermittlung von (theoretischen) Einsichten genutzt werden kann. Ich hatte immer nur die verständnislose Reproduktion (Stufe 1) oder die kompetente Anwendung (Stufe 3) im Blick. Die Videos von Oliver zeigten mir aber ganz persönlich und deutlich, wie Tutorials zur Vermittlung von Einsichten durchaus produktiv genutzt werden können.
Nachträglich muss ich gestehen, dass meine hier dargelegten Gedankensplitter selbst zum Teil durch eine fehlgeleitete Vorstellung von Tutorials motiviert wurden. Denn abgesehen von meinem (durch die Videos von Oliver befriedigtem) Wunsch nach allgemeinen Hintergrundinfos habe ich auch die leise – und wahrscheinlich an Vermessenheit grenzende – Hoffnung, dass ich selbst einmal imstande wäre kleine Änderungen im Code vornehmen zu können. Ich würde gerne da und dort Experimente durchführen, die ich für didaktisch sinnvoll erachte. Dabei geht es mir nicht darum, lebensfähige Varianten von Inhaltstypen zu erzeugen, sondern bloß – im Sinne von Proof of Concept – Konzepte zu entwerfen. Ideen, die dann – wenn sie als brauchbar empfunden werden – von professionellen Entwickler_innen aufgegriffen und umgesetzt werden könnten.
Obwohl mein Ziel also nicht die Entwicklung voll funktionsfähiger neuer Inhaltstypen ist (das wäre sogar Stufe 6 der kognitiven Taxonomie von Anderson und Kollegen), habe ich doch mit meiner auf Stufe 3 bezogenen Erwartungshaltung die von Oliver intendierten Ziele der Stufe 2 überzogen. Eine mit Einsicht versehene vollständige und in sich konsistente Handlungsanleitung hätte zwar für Nachahmung (Stufe 1) gereicht, nicht aber für selbständige Anwendung (Stufe 3).
Zusammenfassung
Bei Schritt-für-Schritt-Tutorials lassen sich mindestens drei grundsätzliche Arten unterscheiden, die verschiedene Stufen des kognitiven Lernprozesses adressieren.
- Stufe 1: Reproduktion bzw. Nachahmung: Eine detaillierte und vollständige Schritt-für-Schritt-Anleitung dient dazu, um eine bestimmte Prozedur unter bestimmten Voraussetzungen durchführen zu können. Die Hintergründe für die einzelnen Schritte bleiben dabei zwar unklar, aber diese Methode hat als begrenzte Problemlösung durchaus ihre Legitimität.
- Stufe 2: Einsicht bzw. Verständnis: Hier wird das Tutorial "bloß" als methodisches Vehikel genutzt um einen Sachverhalt bzw. eine Prozedur zu verstehen. Die Schritt-für-Schritt-Handreichung muss nicht vollständig sein, weil es nicht um Reproduktion, sondern um Erkenntnis geht. Trotzdem sollte jedoch auf bestehende Lücken bzw. nicht behandelte Voraussetzungen an Kenntnissen explizit hingewiesen werden. Diese einschränkenden Verweise differenzieren Tutorials der Stufe 2a von Schritt-für-Schritt-Anleitungen der Stufe 2b.
- Stufe 3: Anwendung bzw. Umsetzung: Hier werden die beiden kognitiven Stufen von Reproduktion und Verständnis miteinander verknüpft. Ziel ist es, die Fähigkeiten für eine eigenständige Durchführung – auch unter wechselnden Bedingungen – zu vermitteln. Ein Ablaufmuster oder eine modellhafte Prozedur anzuwenden, schließt aber natürlich keine analytischen, bewertenden oder gar kreativen Prozesse (Stufen 4-6) mit ein.
Fußnoten
- Warum ich die Aufzählung mit 2a beginne, wird im Artikel weiter unten deutlich.
- Es ist alles komplizierter als ich anfangs gedacht hatte. Die nachfolgende Zusammenstellung ist mit Vorsicht aufzunehmen. Sie stellt mein derzeitiges Verständnis dar, das ich aus den Video erworben habe, und kann daher durchaus mangelhaft sein.
- Um eine Übereinstimmung zu diesen drei Stufen zu erreichen, hatte ich die Überschriften oben zu den Tutorialsarten mit der Ziffer 2 begonnen.
5 Antworten auf „3 verschiedene Arten von Tutorials“
Cool, wow! Ich wusste nicht, was ich mit der Wahl des Begriffs „Tutorial“ anrichten kann!
Vielleicht bin ich auch einfach anders gepolt, wenn ich selbst lerne, und übertrage das unbewusst: Ich erwarte nicht, dass mir jemand explizit Links oder Quellen nennt oder mich an die Hand nimmt. Wenn ich bei mir eine Lücke sehe, forsche ich halt nach, suche mir etwas oder experimentiere selbst. Das ist für mich (und vermutlich einem Großteil von Entwickler:innen) normal. Und, das ist es auch, wo ich mir selbst Arroganz bescheinigt habe: Es ist mir inzwischen egal, ob nicht „alle“ mitkommen. Und dann benutze ich halt ein „Terminal“ (aka shell, command line interface …) und „git“ ohne das groß zu erwähnen.
Mich haben die Konsequenzen meiner eigenen Überlegungen – und auch die Vieldeutigkeit von „Tutorial“ – selbst überrascht! Ich habe mehrere Tage an diesem Artikel herum gefummelt: Immer wieder neu begonnen; einmal wollte ich schon damit aufhören und den Beitrag verwerfen. Ich bin einfach zu keinem schlüssigen Ergebnis gekommen. Erst eine differenzierte Betrachtung von Tutorials hat den Knoten gelöst.
Was mich am meisten überrascht hat: Tutorials habe ich in meinen Publikationen immer nur sinnvoll auf der kognitiven Stufe 3 gesehen, also Schritt-für-Schritt Anleitungen mit Hintergrund-Erklärungen für selbständiges Anwenden. Dass es Tutorials auch für Stufe 1 (reproduzieren) gibt, war mir zwar klar, das hatte ich aber immer sehr abwertend gesehen. Dabei verwende ich solche Tutorials selbst in letzter Zeit immer häufiger!
Dass aber Tutorials für Einsichten/Verständnis genutzt werden können, war mir so überhaupt nicht bewusst. Insofern hast du mit deiner Videoreihe tatsächlich etwas (positiv gesehen) „angezündet“. Ich glaube, dass diese Erweiterung des Einsatzes von Tutorials erst in jüngster Zeit mit dem vermehrten Einsatz von Videos für computerrelevante Prozesse groß an Bedeutung gewonnen hat.
Vielleicht ist das, was ich da mache, einfach kein „Tutorial“, und der Begriff war von mir schlecht gewählt. Wenn das mehr als akademische Relevanz hat, sollte ich mir wohl einen besseren Begriff suchen.
mmmh, vielleicht. Ich sehe aber die Begriffserweiterung für „Tutorial“ durchaus positiv. Und ich weiß auch nicht, ob das jetzt mehr als nur akademische Spitzfindigkeiten sind. Wenn sich sonst niemand außer mir daran stösst, dann lass es einfach bei „Tutorial“ bewenden.
Die „klassische“ umfassende Vorstellung von Tutorials besteht wohl aus drei Aspekten, die gleichzeitig vorhanden sein müssen:
Was wären dann aber Deine H5P Coding Videos? Eine „(Handlungs-)Anleitung“ – wie viele andere Videos auf YouTube? – Wahrscheinlich nicht. Zumindest ist es Dir wichtig zu betonen, dass die Videos nicht als praktische Anleitung gedacht sind. Eine „Handreichung“ schon gar nicht. Darunter verstehe ich eine statische (PDF)-Datei. Gut würde ich „Demonstration“ oder – vielleicht sogar noch besser – „Exploration“ finden. Etwa: H5P: An Exploration into H5P Coding Structures. Mit „Exploration“ und „Structures“ wird deutlich, dass es nicht um Programmierung geht.
Bisher hat sich tatsächlich noch niemand über die Bezeichnung gewundert, aber meine Reichweise ist auch nicht groß und die Zahl derjenigen, die überhaupt Rückmeldung geben, marginal 🙂
Exploration fänd ich gut.