Test: Latour Word-import

1    Vorbemerkung

1.1  Was mir an ANT so gut gefällt

Es gibt zu ANT eine ganze Menge von verschiedenen Definitionen. Eine recht brauchbare Zusammenfassung findet sich auf Learning-Theories.com. Eine Sammlung verschiedener Sichtweisen gibt es hier.  Trotzdem möchte ich in diesem Beitrag – quasi als Start zur gemeinsamen Lesereise – auch noch meine eigene Perspektive hinzufügen:

In ANT wir das Soziale nicht bloß als eine Black Box aufgefasst, ein Erklärungsprinzip, das immer dann herangezogen wird, wenn andere Erklärungsversuche versagen bzw. nicht zielführend sind. Das Soziale ist eben ontologisch gesehen kein Stoff, das ursächlich für Erklärungsmodelle als Ursache herangezogen werden kann. Vielmehr ist zu hinterfragen, wie sich die sozialen Verhältnisse in bestimmten Tatsachen abbilden, sich "Gehör" verschaffen, zum Durchbruch kommen.

So genügt es beispielsweise nicht wie Durkheim "bloß" aufzuzeigen, dass der Selbstmord eine "soziale Tatsache" ist. Selbstmordraten sind zwar von Land zu Land verschieden aber über die Jahre in den jeweiligen Ländern erstaunlich stabil. (Das "bloß" habe ich natürlich unter Anführungszeichen gesetzt, weil es damals eine enorme kreative Leistung von Durkheim war, die höchste individuelle Entscheidung und Tat eines Selbstmordes als ein gesellschaftliches Faktum, d.h. gesellschaftlich bedingt zu begreifen!).

Die soziale Tatsache ist sozusagen nur eine Abkürzung, die genommen werden kann, wenn vorher ganz genau und im Detail untersucht worden ist, wie sich die einzelnen Handlungen der Akteure miteinander verschränken und ein soziales Netzwerk bilden, das bestimmte Gesetzmäßigkeiten folgt bzw. bestimmten Gesetzmäßigkeiten unterliegt. Die interessante Frage lautet also nicht, dass Selbstmord Ausdruck sozialer Verhältnisses ist, sondern wie sich die soziale Verhältnisse unter anderem in eine relative konstante Selbstmordrate niederschlagen (oder wie Latour oft sagt: "versammeln" (assemblieren).

1.2  Die Verdinglichung des Sozialen

Nun sind nach Latour aber nicht nur Menschen Akteure sondern auch Dinge und/oder Technologien. Weil das komisch klingt schlägt die Actors-Network-Theory den Begriff des nicht anthropomorphen, d.h. auf Menschen eingeschränkten Aktanten vor: Dass Aktanten tatsächlich nicht-menschliche Akteure sind, zeigt sich in den verwendeten Verformen, z.b. Eine Kochtopf "kocht" Wasser, ein Thermometer "zeigt" die Temperatur an, etc. Aufgabe der Soziologie ist es nun, dieses Netzwerk der ineinander verschränkten und kommunizierenden Aktanten zu untersuchen, damit das "Soziale" verständlich wird. Das soziale Faktum steht also nicht am Beginn der Erklärungskette, sondern an deren Ende.

ANT ist die fleißige Ameise (Methode/Zugang), die sich langsam aber unermüdlich ihren Weg bahnt, die in einer Sichtweise von unten – bzw. auf gleicher Ebene, d.h. ohne Perspektivenverzerrung, sich die Welt (Realität) erarbeitet. ANT ist sozusagen die Einstein'sche Erweiterung der Newtonschen Mechanik. Wie die Newtonschen Gesetze nur bei geringen Geschwindigkeiten annäherungsweise korrekt sind, so ist die "normale" Soziologie bei relativ stabilen bzw. bereits durchleuchteten Sachverhalten sozusagen als abkürzende Schreibweise korrekt. So wie wir bei großen Geschwindigkeiten die Relativitätstheorie von Einstein benutzen müssen, so brauchen wir bei rasch wechselnden Situationen, bei neuartigen Forschungsfragen, wo sich Menschen und Technologie miteinander verschränken und deren Grenzen ineinander fließen den ANT-Zugang. Deshalb ist ANT nicht nur für die Science and Technology Studies (STS) – woraus sich ANT entwickelt hat – so wichtig, sondern auch als Werkzeug für die Erforschung von Bildungstechnologien von besonderem Interesse.

 

2    Einleitung

 

Ich will nicht viel herum reden: Die Einleitung ist ein Hammer. Sie ist extrem schwer zu verstehen. Es gibt viele – an dieser Stelle im Buch noch dunkle und daher unverständliche – Andeutungen, Vorgriffe auf das, was noch alles kommt. Die Einleitung ist aber nicht nur eine Vorschau, sondern gleichzeitig eine Zusammenfassung der Hauptthesen, zusätzlich noch unterlegt mit einem Rückblick, der ebenso wie die Vorschau für Neulinge recht wenig aussagt und eher verwirrend, denn erklärend ist.

Im Nachfolgendem versuche ich daher als Einstieg den Hauptgedanken der Einleitung – und damit des Buches – vorerst in ganz groben Pinselstrichen nach zu zeichnen. Ich werde später, wenn wir im Text weiter fortgeschritten sind, wieder auf die dann hoffentlich besser verständlichen Anmerkungen in der Einleitung zurückkehren.

2.1  Das Soziale neu definiert

Es geht Bruno Latour darum, den Begriff des Sozialen neu zu definieren. Dabei geht er auf seine ursprüngliche etymologische Bedeutung zurück, der Assoziation, Verbindung oder Verknüpfung. – Im Deutschen ist der Begriff der Assoziation irreführend, weil damit meistens eine konkrete Verknüpfung gemeint ist, die gedankliche Assoziation. Im englischen Text funktioniert daher das Wortspiel mit Soziologie und Assoziologie weit besser.

Sein Vorschlag ist extrem und radikal. Gegenüber der traditionellen Soziologie, die er "Soziologie des Sozialen" propagiert er eine neue Art von Soziologie, eine "Soziologie der Assoziationen".

Das Soziale Nr.1

Die traditionellen Soziologie, sieht das Soziale als eine eigene Sphäre an, Nach dieser Sichtweise (das Soziale Nr. 1) funktioniert dieser eigene Bereich anders, unterliegt anderen Gesetzen, ist  – fast wie eine materielle Eigenschaft eines Stoffe wie z.B. hölzern, eisern – allgegenwärtig und wirkt quasi aus dem Hintergrund, hinter den Rücken der Akteure heraus auf die Dinge, Objekte dieser Welt.

Das Soziale Nr.2

Die andere Definition des Sozialen (das Soziale Nr. 2)  hingegen ist nichts Zusätzliches, bildet keine eigene Sphäre, die durch irgendwelche geheimen Kräfte zusammen gehalten wird, sondern wird durch die Verknüpfung von Elementen, von nicht-sozialen Dingen hervorgebracht bzw. in Bewegung gehalten.Das Soziale wird nur sichtbar in den Spuren (traces), die es hinterlässt; nämlich immer dann, wenn neue Verbindungen (Assoziationen) entstehen. Das Soziale Nr.2 ist also keine eigene Sphäre, sondern ein "Verknüpfungstyp zwischen Dingen, die selbst nicht soziale sind" (17)

2.2  Radikale Konsequenzen für die Sozialwissenschaft

Wenn man – so wie ich – auf das Sozialen Nr.1 ausgebildet, ja aufgewachsen ist, dann ist es wahrlich nicht einfach, sich auf die andere Sichtweise umzustellen. Dieser Satz ist ein nettes Understatement  😆 ! In unserer Soziologie-Ausbildung wurden wir darauf trainiert, das Soziale als einen spezifischen Kausalitätszusammenhang, als ein spezielles Erklärungsprinzip zu sehen, das wir quasi als "Rahmen" oder "Kontext" auf jene Bereiche der Realität "angewendet" – oder bösartiger: darüber gelegt – haben.

Nun aber – unter der Perspektive des Sozialen Nr. 2 – erfährt die Aufgabe des Soziologen einen radikalen Wandel: Statt das Vorgefundene mit sozialen Kräften, Gesetzmäßigkeiten in einer statischen Art und Weise zu erklären, geht es vielmehr darum, den dynamischen Prozess des Versammelns, der Bildung sozialer Verknüpfungen nach zu zeichnen. Statt also als Soziologe außen vor zu stehen, weil wir angeblich nur dann einen ungetrübten und objektiven Blick auf die sozialen Kräfte werfen können, müssen wir uns auf die Sachen, ihren Bewegungen, Verbindungen und Verknüpfungen einlassen. Statt die Bewegungen durch eine frühzeitige Erklärung "einzufangen" bzw. "einzufrieren", müssen wir vielmehr sie verfolgen und zur vollen Entfaltung bringen helfen.

Obwohl ich in der Tradition des Sozialen Nr.1 aufgewachsen bin, so ist mir in einem Punkt diese Vorgangsweise schon immer suspekt gewesen: Oftmals hatten die Soziologen von der zu untersuchenden Sache recht wenig inhaltliche Ahnung. Mich hat schon immer z.B. gestört, wenn Technik-SoziologInnen über soziale Folgen der Computertechnologie geschrieben haben aber selbst wenig Ahnung und oft kaum praktische Erfahrung mit dieser Technologie hatten. Oder wenn MediensoziologInnen über Medien schreiben ohne ein technisches Verständnis von der inhärenten Logik der Medien zu haben. (Ähnliches trifft übrigens auch auf andere Wissenschaften zu).

Eine Folge dieser Kritik an der allgemeinen Soziologie, die bloß auf einer sehr abstrakten Metaebene verweilte, oft langweilig und mit wenig konkreten Kenntnisse arbeitete, waren die Bindestrich-Soziologien: Arbeits-, Bevölkerungs-, Bildungs-, Technik-, Wissenschaftsoziologie um nur jene zu nennen, mit denen ich mich selbst beschäftigt habe. Wenn auch diese Bindestrich-WissenschaftlerInnen den Bezug zum inhaltlichen Feld im allgemeinen hatten, so wurde darin doch eine Zersplitterung und Fragmentierung des Zugangs deutlich. Außerdem wurde weiterhin das Soziale Nr. 1 als Erklärungsmodell gesehen, auch wenn es nun auf unterschiedliche Bereiche – detaillierter und spezifischer – angewendet, bzw. als Rahmen "darüber gelegt" wurde.

2.3  Den Akteuren folgen und Abkürzungen vermeiden

Das Soziale Nr. 1 nimmt mehrere unzulässige Abkürzungen und Vereinfachungen vor:

  • Die Untersuchungen werden auf menschliche Akteure eingeschränkt:Gerade im Bereich von E-Learning, Web 2.0, Bildungstechnologie – also jenen inhaltlichen Schwerpunkten, denen sich dieses Weblog verschrieben ist, wird deutlich, dass dies zu kurz greift. Mit einer E-Mail oder mit meinem Weblog stelle ich soziale Kontakte her. Wenn in diesem Zusammenhang das Wort "sozial" einen eigenartigen Beigeschmack hat, so liegt das gerade daran, dass die Einschränkung auf menschliche Akteure inzwischen vorherrschend geworden ist. Die Untersuchungen müssen sowohl die Mensch-Mensch Verknüpfungen analysieren, als auch die Technik-Mensch und Technik-Technik Verbindungen beachten. Es ist ein kompliziertes Mix an Verknüpfungen, das sich einem Blick, der nicht bereits auf das Soziale Nr.1 eingeschränkt ist, offenbart.
  • Die AkteurInnen werden auf die Rolle von InformantInnen beschränkt:Die Meinung und Sichtweise der Akteure ist nicht bloß ein zu Hinweis, der als "Entfremdung", "Fetisch-Charakter" und "falsches Bewusstsein" (weg-)interpretiert werden darf, sondern die Art und Weise, wie die menschlichen AkteurInnen ihre Verbindungen herstellen und zu stabilisieren versuchen. Gerade diese Methoden des "Versammelns", der Assoziationen gilt es zu erforschen. ForscherInnen müssen daher diesem Prozess des Verknüpfens nachgehen und nicht das Soziale (Nr. 1) als Erklärung anführen, sondern umgekehrt erklären, wie das Soziale (Nr. 2) entsteht. Statt die starre Folie Nr.1 über die neu zu untersuchenden Bereiche zu legen, müssen SozialwissenschaftlerInnen das Soziale mühsam, langsam und in fleißiger Arbeit wieder zusammensetzen. ("Reassembling the Social": Das ist auch der Titel der englischen Ausgabe!)

Gerade auch wegen dieser mühevollen, langsamen, kontinuierlichen, fleißigen Arbeitsweise hat Latour sich nun entschieden ANT (= Ameise im Englischen) als Namen seiner neuen Soziologie beizubehalten. Die Akteur-Netzwerk-Theorie geht davon aus,

  1. dass nicht nur Menschen Akteure sind (daher wird später der neutralere Begriff des Aktanten vorgeschlagen),
  2. dass die nicht-menschlichen und menschlichen Akteure Verbindungen eingehen (sich assoziieren) und dadurch (heterogene) Netzwerke bilden,
  3. dass das detaillierte Nachzeichnen dieser Verknüpfungen die wesentliche Aufgabe der WissenschaftlerInnen ist – und damit den Hauptaspekt der wissenschaftlichen Erklärung darstellt.

2.4  Neue Fragen sozialwissenschaftlicher Forschung

Unter diesen Prämissen ergeben sich gänzlich neue Fragen für die wissenschaftliche Forschung. Statt zu fragen, welche soziale Aspekte ein Phänomen erklärbar machen, muss umgekehrt erklärt werden, wie das soziale Phänomen entstanden ist, wie sich die menschlichen und nicht-menschlichen Akteure versammelt haben. Im Buch will Latour vor allem drei neuen Fragen nachgehen (vgl. S.36):

  1. Wie lassen sich die vielen Kontroversen über Verknüpfungen (Assoziationen) entfalten, ohne das Soziale bereits von vornherein auf den menschlichen Bereich zu beschränken. Wir können ja Dinge, Tiere, Pflanzen etc. nicht so befragen, wie wir es mit Menschen tun. (Ganz einmal abgesehen davon, dass bei der "Soziologie des Sozialen" diese Befragungen sowieso nur dazu dienen, um das "falsche Bewusstsein" der Akteure zu entlarven.
  2. Wie lassen sich die Mittel, mit denen AkteurInnen diese Kontroversen stabilisieren, nachzeichnen?
  3. Durch welche Verfahren kann das Soziale in einem Kollektiv neu versammelt werden. (Latour verwendet hier absichtlich nicht den Begriff "Gesellschaft", sondern Kollektiv. Zu den Unterschied dieser beiden Termini kommen wir gegen Ende des Buchtexts noch genauer zu sprechen.

2.5  Warum so eine komplizierte Einleitung?

Es stellt sich natürlich die Frage ob die Einleitung wirklich so kompliziert und relativ unverständlich formuliert sein muss. Abgesehen davon, dass es eine neue noch junge Sichtweise ist, die mit einer anderen, langjährig dominanten Perspektive konkurrenziert, gibt es noch andere Gründe für diese etwas schwierige Einführung, die in der Einführung zum 1. Teil deutlich gemacht werden:

Wie in der Physik mit der Heissenberg’schen Unschärferelation gibt es auch eine inhärente logische Beschränkung der ANT: Latour, der das Verhältnis von alter "Soziologie des Sozialen" und neuer "Soziologie der Assoziationen" gerne mit der Beziehung der klassischen Physik (Newton) zur relativistischen Physik (Einstein) vergleicht, sieht gleich fünf Unbestimmtheiten (Unschärferelationen) in der ANT (S.42f.). Es ist also dem Inhalt selbst, der in der ANT innewohnenden Logik verschuldet, dass (zu Beginn) für Neulinge alles etwas rätselhaft und kryptisch wirkt. Es muss jedoch vor jedem weiteren (erklärenden) Schritt zuerst alle fünf Unsicherheiten berücksichtigt werden. Wie das geht, das werden wir in den nächsten fünf Lektionen (jede der kommenden fünf Lektionen wird sich einer Unbestimmtheit widmen) genauer untersuchen.

Ich habe bereits erwähnt, dass der Einleitungstext nicht ganz einfach zu lesen ist. Neben einer noch unverständlichen Vorschau, einem nur für Spezialisten verständlichen Rückblick der Ursprünge von ANT, sind es auch einige Fachbegriffe, die Schwierigkeiten machen. Auch gibt es einige wichtige Unterschiede zur (späteren) deutschen Version, bei der die inzwischen erschienene französische Ausgabe herangezogen wurde. Zu all diesen – wichtigen oder aber auch unwichtigen – Kleinigkeiten folgen nachfolgend einige Anmerkungen. (Wobei bitte zu bedenken ist, dass ich nur die deutsche + englische Version vor mir habe und leider auch nicht französisch kann.)

Versammeln (to assemble):

Ich hatte zu Beginn ganz große Schwierigkeiten mit diesem Begriff, der in der Standard-Soziologie nicht üblich ist. Es wird vielleicht ein wenig klarer, wenn ein Bedeutungswörterbuch zu Rate gezogen wird. Da überrascht zum Einen, dass es zwei Bedeutungen gibt (siehe dazu auch das FreeDictionary):

  • Jemand versammelt jemanden irgendwo, d.h. mehrere Personen an einem Ort zusammenkommen lassen: z.B. "Der Direktor versammelte Schüler und Lehrer in der Pausenhalle." – Hier wird das Verb "versammeln" mit einem Objekt verwendet.
  • Sich versammeln, d.h. mehrere Personen kommen an einem Ort zusammen: z.B. "Zur verabredeten Zeit versammelten sich alle Mitarbeiter zu einer Besprechung."

Das Problem mit versammeln besteht vor allem darin, dass es sich auf Personen bezieht und daher sprachlich in eine andere Richtung abzielt, als es Latour intendiert. Bei versammeln sollen sich auch nicht-menschliche Akteure (bzw. Aktanten). Ich glaube daher, dass es für die deutsche Übersetzung besser gewesen wäre, die Wörter verbinden oder verknüpfen zu verwenden. Vor allem bei "verknüpfen" liegt offensichtlich mit seinen Synonymen verbinden und assoziieren sehr eng an den intendierten Bedeutungszusammenhang.

Andererseits – und das ist die zweite Überraschung – führt das Bedeutungswörterbuch als Oberbegriff interagieren an! Das ist nun ein Begriff, der sowohl im menschlichen als auch nicht-menschlichen Bereich Sinn macht und verweist darauf, dass "Versammeln" doch nicht so schlecht gewählt ist:  Allerdings ist "interagieren" als Oberbegriff zu allgemein. Auch ablehnen, abstoßen wäre eine Form der Interaktion, aber das genaue Gegenteil der intendierten Wortbedeutung. Vielleicht wäre daher das etwas unschöne deutsche Wort zusammenkommen die beste Übersetzung gewesen? Sowohl Menschen kommen zusammen, als auch nicht-menschliches wie Geld, Arbeit kommt zusammen, z.B. "In meiner Abwesenheit ist einiges an Arbeit zusammengekommen" oder "Bei der Sammlung sind fünfhundert Euro zusammengekommen." (vgl. dazu auch das FreeDictionary.)

Koextensiv, Metamorphose und Oxymoron

Gerade dort, wo Latour erklärt (10-12), wie sich der Bedeutungszusammenhang von Sozio-logie verändert, erschweren drei Fremdwörter und eine unglückliche Übersetzung das Verständnis:

Koextensiv (coextensive) heißt flächen-, deckungs- aber auch inhaltsgleich. Wenn auch noch die unglückliche Übersetzung von intercourse nicht mit "Vekehr" (offensichtlich hatte der Übersetzung sich auf die Hauptbedeutung wie z.B. in "sexual intercourse" angelehnt) sondern mit "Umgang" übersetzt wird, dann wird  der Satz auf Seite 11 verständlicher. (In eckiger Klammer meine Übersetzung):

Man hatte keine Vorstellung davon, daß [dass] die Ausbreitung der Wissenschaft diese eines Tages nahezu koextensiv [inhaltsgleich] mit dem Rest des gesellschaftlichen Verkehrs [Umgangs] machen könnte.

Damit liest sich Seite 10-11 etwa: Der Bedeutungsumfang von Sozio-logie hat sich mit der Zeit verengt: Einerseits wurde die Wissenschaft immer wichtiger und ist heute nicht nur – wie noch während der Modernisierung – bloß ein mächtiger Antriebsfaktor, sondern hat inzwischen nicht nur die Poren der gesamten Gesellschaft durchdrungen sondern bremst heute inzwischen sogar in manchen Fällen den gesellschaftlichen Fortschritt. Andererseits hat damit auch unsere Gesellschaft einen radikalen Wandel durchlaufen und ist auf das Engste mit Technik und Wissenschaft verknüpft.

Es ist nicht länger klar, ob es Beziehungen gibt, die spezifisch genug sind, um sie als "soziale" zu bezeichnen, und die sich zusammen gruppieren las-/sen, um eine besondere Sphäre namens "Gesellschaft" zu bilden. Das Soziale scheint sich überall verflüchtigt zu haben und doch nirgendwohin im besonderen. Weder Wissenschaft noch Gesellschaft sind stabil genug geblieben, um die Versprengen einer strengen "Sozio-logie" einlösen zu können." (11/12)

Dieser doppelte radikale Umbruch von Gesellschaft und Wissenschaft ist das, was Latour als doppelte Metamorphose (Wandel) bezeichnet. Und genau diese Entwicklung ist es, die auch durch eine doppelte Metamorphose (meine Diktion, pb) der Sozialwissenschaft widerspiegelt werden muss: Den Wandel in Inhalt und Methode der Soziologie!

Es ist daher kein Zufall, dass ANT vor allem aus dem Bereich der Technik- und Wissenschaftsstudien (Science and Technology Studies, STS) Fachgebiet in dem Bruno Latour als gelernter Anthropologe jahrzehntelang tätig war, entwickelt wurde. Dementsprechend bezeichnet Latour die Bezeichnung der "Wissenschaftssoziologie" als Oxymoron, als Widersprich in sich: Die Verknüpfung von Wissenschaft und Gesellschaft ist bereits vollzogen, eine Wissenschaftssoziologie demnach eine Tautologie.

Aufgrund der vielen Paradoxien, zu denen dieses lebendige und perverse Fachgebiet geführt hat, sowie der zahlreichen Veränderungen in der Bedeutung von "Wissenschaft" denke ich, daß der Zeitpunkt gekommen ist zu modifizieren, was unter "sozial" zu verstehen ist. Daher möchte ich eine alternative Definition für "Soziologie" entwickeln, dabei dieses nützliche Etikett gleichwohl beibehalten und, wie ich hoffe, der traditionellen Berufung dieser Disziplin treu bleiben. (12)

3    Erste Quelle der Unbestimmtheit

 

Die erste Quelle der Unbestimmtheit bzw. der Unschärfe jeder sozialwissenschaftlicher Untersuchung – mit der Latour in seiner Darstellung der ANT beginnt – ist die Gruppe. "Gruppe" ist für ihn einerseits etwas, was ständig in Bewegung ist, sich ununterbrochen formiert, sich abgrenzt, sich umgruppiert, sich auflöst oder nach Identität sucht. Andererseits sind Akteure nicht einfach auf eine bestimmte Gruppe festzulegen; sie gehören verschiedenen Gruppen gleichzeitig und sich überlappend an: Gruppen mit verschiedenen identitätsstiftenden Merkmalen (Staatsbürger, Konsument, Latour-Leser), Gruppen in verschieden komplexen Aggregatzuständen (Schülerin, Schulsprecherin).

3.1  Worin besteht die Unbestimmtheit?

Ist es diese Bewegung und Überlappung, was unter Latours (sozial)wissenschaftliche Unschärfe zu verstehen ist? Etwa nach dem Muster einer fotografischen Aufnahme eines sich schnell bewegenden Objekts, das auf einem Foto – wegen seiner rasche Eigenbewegung – nur verschwommen sichtbar ist, oder – weil es durch ein anderes Objekt verdeckt wird – nur teilweise sichtbar ist?  – Ich glaube nicht, dass damit sich die Unbestimmtheit erklären lässt. Die Unschärfe wäre dann nämlich mit einer anderen Herangehensweise zu umgehen: Durch die Wahl einer kürzeren Belichtungszeit, die das Objekt scharf abbildet, durch die Wahl eines anderen Aufnahmeorts, mit freier Sicht zum Zielobjekt.

Nein, die Unschärfe ist eine grundsätzliche, nicht auflösbare Schwierigkeit: Wie die Messung im subatomaren Bereich durch das Messinstrument selbst verfälscht wird (Elektronenmikroskop = Schießen von Energiepartikeln auf das zu untersuchende Objekt), sind SozialwissenschaftlerInnen nicht nur selbst Teil der zu untersuchenden Umgebung sondern beeinflussen sie auch, z.B. indem sie bestimmte Interpretationen, Zuordnungen, Festlegungen (z.B. welche Gruppe relevant ist und welche irrelevant ist) vornehmen.

Für eine solche willkürliche Grenzziehung gibt es natürlich viele "objektive" Gründe: Schließlich muss die Untersuchung ja irgendwo "begonnen" bzw."begrenzt" werden, das Thema "fokussiert" werden. Darin sieht Latour aber bereits das erste Problem – und einen gravierenden Unterschied zum Sozialen Nr. 1:

Es gibt im Sozialen Nr. 2 beim Beginn einer Untersuchung keine mehr oder weniger relevanten Gruppen. Der Diskurs welche Gruppe relevant oder irrelevant ist, ist selbst bereits Teil des Untersuchungsgegenstands.

Aufgabe von SozialwissenschaftlerInnen ist es gerade, diese Kontroversen über Gruppenbildung zu kartografieren und nicht etwa den gerade erreichten Zustand unhinterfragt als gegeben anzunehmen. Dabei soll nicht nur auf die Kontroverse geachtet werden, sondern sie soll – so die Überschrift zum 1.Teil des Buches – "entfaltet" werden. Bei dieser "Entfaltung" muss aber vorsichtig vorgegangen werden: Die größte Gefahr besteht darin, dass SoziologInnen mit einem vorgefertigten "Rahmen" sich über diese Kontroversen werfen und sie z.B. mit ihrer Soziologensprache vereinnahmen. The map is not the territory – die Landkarte, die wir zeichnen, darf nicht mit dem kartografierten Gebiet verwechselt werden.

Deshalb ist es wichtig, dass die Metasprache der AkteurInnen (Ja! - auch Akteure haben eine Metasprache, bemühen sich um Begriffe) nicht mit der Metasprache der AnalytikerInnen verwechselt wird. ANT verwendet daher keine reflektierte Metasprache, sondern eine Infrasprache, die strikt bedeutungslos bleibt und nur der einen Aufgabe dient, sich zwischen verschiedenen Bezugsrahmen bewegen zu können. (Darüber später noch genauer, wenn es um ANT-Berichte geht = 5. Quelle der Unbestimmtheit.)

3.2  Vier Spuren-Elemente der Gruppenbildung

Der Prozess der ständig vor sich gehenden Gruppenbildung bzw. Gruppenerneuerung ist viel einfacher zu untersuchen als "stabile" Gruppen. Im Prozess der Gruppenbildung werden Spuren hinterlassen, Spuren die es gilt als Soziologe nachzuzeichnen. Dabei können vier Fragen sehr hilfreich sein:

  • Wer sind die "Sprecher" der Gruppe, ihre Advokaten und was sagen sie?
  • Wer sind die Feinde der Gruppe, was sind die zu jeder Gruppe gehörenden Anti-Gruppierungen?
  • Wie wird die Gruppe definiert (durch ihre Akteure, nicht etwa durch SoziologInnen!), was sind ihre (diskutierten) Grenzen?
  • Welche soziologischen Instrumente "hängen" an der Gruppe, wie stehen schließlich die SozialwissenschaftlerInnen zu dieser vor sich gehenden Kontroverse?

H1N1 (Schweinegrippe) - Ein Beispiel

In den ersten Kommentaren wird darauf verwiesen, dass Beispiele den Latour-Text besser verständlich machen würden. Impfstoff wird dabei als Beispiel – und wie ich glaube, gutes Beispiel – genannt. Gut jedoch– zumindest für mich – bloß im abstrakten Sinne: Ein aktuelles Beispiel mit dem sich recht gut die Kontroverse nachzeichnen lässt – wenn, ja wenn man/frau die entsprechenden Kenntnisse in Zusammenhang mit Impfstoffen und Epidemien hätte . Ich kenne mich leider mit diesem Thema viel zu wenig aus – und wenn ich eins von Latour gelernt habe, dann ist es dies: SoziologInnen müssen etwas von der Sache verstehen, sie können nicht auf eines (sprachliche) Meta-Ebene ausweichen.

Trotzdem möchte ich - quasi laienhaft und bloß als erster Versuch – das Beispiel an den 4 Spuren-Elementen anwenden: Eine mögliche Kontroverse, die hier kartografiert werden könnte wäre z.B.: Ist H1N1 gefährlich, bzw. gefährlicher als andere Grippeviren? Je nachdem, welcher Position man anhängt, gehört man/frau zur Gruppe der FürsprecherInnen für hohe Gefahr, bzw. der Anti-Gruppe, die darin keine so große Gefahr sieht.

  • Wer sind die "Sprecher" der Gruppe, ihre Advokaten und was sagen sie? – Natürlich gibt es einige Gruppe mit ganz klarem Interesse, wie die pharmazeutischen Konzerne, die Produzenten von Impfstoffen. Aber müssen (inzwischen ?) auch (Gesundheits-)Politiker, wie Obama, der gerade dazu den nationalen Notstand ausgerufen hat, dazu gerechnet werden? Wie stehen die verschiedenen anderen "SprecherInnen" wie Epidemiologen, Ärzteverbände,  GesundheitspolitikerInnen, Touristenverbände, Regierungen etc.
  • Was sind die Feinde der Gruppe, was sind die zu jeder Gruppe gehörenden Anti-Gruppen? – Gibt es die hier überhaupt? Wieso – so fragen sich einige Laien (wie ich z.B.) wird so viel Wirbel um H1N1 gemacht, wenn es stimmt, was  Margret Chanvon der WHO sagt: "[T]he overwhelming majority of patients experience mild symptoms". Vielleicht kann daher die WHO als Anti-Gruppe gesehen werden?
    Z.B: "With the exception of the outbreak in Mexico, which is still not fully understood, the H1N1 virus tends to cause very mild illness in otherwise healthy people. Outside Mexico, nearly all cases of illness, and all deaths, have been detected in people with underlying chronic conditions." (siehe hier, etwa unteres Drittel). Die klinischen Indikatoren sind keineswegs eindeutig, wie neuere Untersuchungen zeigen  (, 1.5 MB)
  • Wie wird die Gruppe (durch ihre Akteure, nicht etwa durch SoziologInnen!) definiert, was sind ihre Grenzen? – Ich würde hier die (kontroversiellen ?) Definitionen von H1N1 bzw. Schweinegrippe anführen, z.B. in Wikipedia, als Veränderung
    Z.B. "Influenza A virusstrains are categorized according to two proteins found on the surface of the virus: hemagglutinin (H) and neuraminidase (N). All influenza A viruses contain hemagglutinin and neuraminidase, but the structures of these proteins differ from strain to strain, due to rapid genetic mutation in the viral genome."
  • Welche soziologischen Instrumente "hängen" an der Gruppe, wie stehen schließlich die (Sozial- und anderen) WissenschaftlerInnen zu dieser vor sich gehenden Kontroverse? – Hier würde ich beispielsweise sowohl die Bewertung der Schwere der Pandemie zuordnen (vgl. Assessing the severity of an influenza pandemic), was offensichtlich durchaus nicht einfach ist (, 318 kB),  die Einteilung und Definition der qualitativen Indikatoren (geographische Ausbreitung, Trend, Intensität und Auswirkung, vgl. hier) als auch überhaupt die Konstruktion der 6 Phasen einer Pandemie (, 332 kB).

Ein gutes Illustration für ANT gibt der 6 Minutenfilm der WHO. Der Film zeigt wie das Alarm-Netzwerk aufgebaut ist, welche Faktoren, Berufe, Kommunikationsmittel involviert sind. Eine gute Fingerübung wäre es all die bisherigen erwähnten Begriffe der ANT unter dem Aspekt dieses Informationsvideos zu illustrieren zu versuchen. Möchte das wer probieren?

3.3  Gruppenbildung und Erkenntnistheorie

Gruppen bzw. soziale Aggregate können nicht durch bloß eine hinweisende (ostensive) Definition, durch das Zeigen auf Beispielen erläutert werden, sondern müssen vielmehr durch ständige performative Sprechakte gesetzt bzw. in Bewegung gehalten werden. Allerdings will Latour damit nicht sagen, dass der Sprechakt selbst bereits die Handlung ist wie z.B. in "Die Tagung ist hiermit eröffnet.", sondern dass die vor sich gehenden sprachlichen Kontroversen Teil des Gruppenbildungsprozesses sind.

Erkenntnistheoretisch nimmt die ANT nicht eine objektive, außerhalb des zu untersuchenden Zusammenhangs stehende Position ein. Es gibt kein "Gottes Auge", womit das "Ganze" erfasst werden kann. VerfechterInnen der ANT geht es vielmehr wie der sprichwörtlichen Elefanten-Kontroverse: Je nach dem Standpunkt und Interesse wird der Elefant unterschiedlich wahrgenommen. Hört einmal die Diskussion darüber auf, was nun eigentlich dieses gemeinsam untersuchte Objekt ausmacht, dann hört in gewisser Weise auch das Konstrukt zu existieren auf: z.B. "Elefant" (Perspektive: Gottes Auge) bzw. "Ventilator" (dritter Wissenschaftler von links) "Seil" (Wissenschaftler ganz rechts).

Ich sage in diesem Beispiel, dass das "Konstrukt" zu existieren aufhört, nicht das Objekt selbst. Das ist aber genau der Unterschied zum Konstrukt "Gruppe". "Gruppe" kann eben nicht durch eine hinweisende Definition – wie es die 6 "Elefanten"-Wissenschaftler tun) erklärt bzw. gegründet werden. "Gruppe" ist kein Objekt sondern eine Bewegung, und hört einmal diese Bewegung (Kontroverse) auf, dann gibt es auch keine Gruppe mehr, so wie es keinen Tanz mehr gibt, wenn man zum Tanzen aufhört. Gruppen werden vielmehr durch die Kontroversen selbst geschaffen, abgegrenzt, identifiziert, gegenübergestellt, charakterisiert etc.

Sobald man aufhört, Gruppen zu bilden und umzubilden, gibt es keine Gruppen mehr (63)

und

… der Gegenstand einer performativen Definition löst sich auf, wenn er nicht länger zur Darstellung gebracht wird (68)

[Vielleicht wäre es sinnvoll für diesen dynamischen Gruppenbegriff einen eigenen Begriff zu verwenden. So wie Latour statt "Gesellschaft", das zu stark an Soziales Nr.1 erinnert, den Begriff des "Kollektivs" im späteren Text verwendet, so könnte beispielsweise "Ensemble" – was zudem die Nähe zu assemblieren, zusammensetzen aufweist – für den durch Soziales Nr.1 dominierten Gruppenbegriff verwendet werden.]

3.4  Zwischenglieder (intermediary) und Mediatoren (mediators)

Eine weitere unglückliche Übersetzung ins Deutsche: Der für die ANT so kleine aber wichtige Gegensatz von einem Zwischenglied, das nichts verändert, nur verbindet und einem Zwischenglied, das verändert, übersetzt, vermittelt, transformiert wird leider mit dem Begriffspaar Zwischenglied und Mittler übersetzt. Ich finde es weit besser und instruktiver Zwischenglied und Mediator zu verwenden, weil hier wesentlich deutlicher der Unterschied zwischen aktiver (Mediator) und passiver Rolle (Zwischenglied) herauskommt. Ich werde im Weiteren daher statt Mittler immer Mediator verwenden.

Die Aufmerksamkeit auf diesen kleinen, aber entscheidenden Unterschied zu legen, hat große Konsequenzen in der Akteur-Netzwerk Theorie. Ist z.B. eine E-Mail nur ein Zwischenglied der face-to-face Kommunikation oder ist es ein Mediator, der die Kommunikation verändert, gestaltet, transformiert? – Ich bin fest davon überzeugt, dass das Letztere der Fall ist.

Mit der Unterscheidung Zwischenglied-Mediator werden wir darauf hingewiesen, dass wir die Verbindungen und Verknüpfungen des Netzwerks selbst untersuchen müssen. Es geht nicht bloß um die Objekte, die an diesen Verbindungen "hängen", sondern es geht auch um die Art und Weise der Verbindungen selbst. ANT geht davon aus, dass die innere Natur der Verbindungen selbst unbestimmt ist und untersucht werden muss. Wenn sich herausstellt - was bei genauer Betrachtung, dann tatsächlich häufig der Fall ist –, dass es sich um Mediatoren handelt, dann hat das großen Einfluss auf die Theoriebildung.

Wieder zu unserem Beispiel H1N1:

  • Ist die Ankündigung von Obama, dass die Schweinegrippe als nationaler Notfall zu behandeln ist, bloß eine neutrale Mitteilung oder hat sie Einfluss auf die Kontroverse über H1N1?
  • Ist das Warnsystem der WHO bloß ein Zwischenglied zur Feststellung der Schwere der Pandemie oder ist das Aufstellen der 6 Phasen, der 4 qualitativen Faktoren etc. bereits selbst Teil der Kontroverse?

Selbst die berühmten individuellen Akteure (z.B. Obama) als auch großen und wichtigen systemischen Akteure (WHO) sind oft selbst Teil des Gruppenbildungsprozesses und nicht bloß neutrale Projektionen. Sie sind Ameisen und bewegen sich auf derselben (flachen) Ebene, wie wir alle. Die berühmte 11. Feuerbachthese von Karl Marx gehört nach Latour daher adaptiert und wieder zurück auf die Füße gestellt:

Die Sozialwissenschaftler haben die Welt nur verschiedenen verändert; es kommt darauf an, sie zu interpretieren. (75)

3.5  Unterschiede zwischen Soziales Nr.1 und Soziales Nr.2

Zum Schluss möchte ich noch als eine Art Zusammenfassung die durch die erste Quelle der Unbestimmtheit herausgearbeiteten Unterschiede zwischen Soziales Nr.1 und Nr.2 tabellarisch auflisten.

Soziales Nr.1 Soziales Nr.2
Konzepte der Analytiker haben größere Bedeutung Konzepte der Akteure haben größere Bedeutung
Kommentare sind wichtiger Zitate, Originaldokumente sind wichtiger
Mit Definitionen, Verkündungen beginnen Nicht mir Definitionen und Verkündungen beginnen sondern die Definitionen und Verkündungen der Akteure nachzeichnen
SozialwissenschaftlerInnen sind in einer anderen Sphäre, haben einen unvoreingenommen (Über-)Blick SozialwissenschaftlerInnen sind Akteure im Gruppenbildungsprozesse wie alle anderen, können keinen unvoreingenommenen Blick entwickeln
Gruppen sind stabile Objekte und können (von außen) gezeigt werden Gruppen sind Momente der Bewegung und können nur sich selbst darstellen
Ordnung, Stabilität, Zusammenhalt ist die Regel Bewegung, Veränderung, Instabilität ist die Regel
Irgendwo muss die Forschung beginnen, warum dann nicht mit einer Definition (von Gesellschaft)? Definieren wir nicht selbst das zu Untersuchende, sondern lassen es die Akteure definieren, zeichnen wir nur nach was die Akteure tun/definieren etc.
So wie Gruppen gibt es auch die Gesellschaft a priori So wie Gruppen muss auch Gesellschaft immer wieder durch subtile Veränderungen nicht-sozialer Ressourcen entworfen werden
Es gilt ein Schlüsselvokabular zu entwickeln, das die Sprache der Akteure in die Sprache der Analytiker transformiert Es gibt kein drittes Vokabular, keine Verrechnungsstelle, die die Handlungen unter der Perspektive der Analytiker erklärt
Es gibt soziale Kräfte, die als Klebstoff für stabile Gesellschaftsordnungen wirken Es gibt kein Reservoir an Bindungen, keine sozialen Kräfte, die im Hintergrund ständig wirken
Die Gesellschaft ist wie ein zu restaurierendes Gebäude: Es ist schon immer vorhanden und muss nur ständig erneuert werden. Die Gesellschaft ist wie eine Bewegung, wie z.B. ein Tanz, wird die Bewegung nicht mehr fortgeführt, gibt es sie nicht mehr. .
Es gibt eine Trägheit, die Soziales (weiter) bestehen lässt. Nur in der ständigen Bewegung gibt es Soziales.
Es gibt nur einen Typ sozialer Aggregate, der je nach der entsprechenden Theorie bevorzugt wird – mit vielen Zwischengliedern aber wenigen Mediatoren Es gibt keine bevorzugten Typ sozialer Aggregate (Individuen, Klassen, Schichten, etc.), die zudem noch durch viele Mediatoren verändert werden
Soziologie sollte so exakt wie eine Naturwissenschaft sein Soziologie sollte nicht die Naturwissenschaften imitieren und vor allem – wie etwa die Anthropologie die Vielfalt entwickeln.

 

4    Die zweite Quelle der Unbestimmtheit: Der Ursprung der Handlung

In diesem Kapitel de- und rekonstruiert Latour den sozialwissenschaftlichen Handlungsbegriff. Wie im vorigen Kapitel (Gruppenbildung = 1. Quelle der Unbestimmtheit, vgl. GLL-02) fordert ANT, dass keine voreilige Zuweisungen von WissenschaftlerInnen vorgenommen werden dürfen. Auch bei der Untersuchung der Handlungsträger und deren Handlungen muss das breite Spektrum der Kontroversen aus der Sicht der Akteure voll zur Entfaltung gebracht werden. SozialwissenschaftlerInnen und Akteure sind einander in ihrer Interpretationen, Theoriebildungen ebenbürtig wenn sie fragen: Wer handelt? Warum handelt wer? Was bringt und dazu das Gleiche zur gleichen Zeit zu tun? Warum knüpfen unsere Handlungen an die Handlungen anderer an?  Wie entsteht die "soziale Welt" und woraus besteht sie?

4.1  Handeln als Konglomerat vieler überraschender Quellen

Eine der zentralen Fragen – wenn nicht sogar die zentrale Frage – der Soziologie Nr.1 (ich verwende in Zukunft die von Frank Vohle eingeführte Abkürzung S1) ist es das Zusammenspiel der vielen Akteure zu erklären. Wie ist es möglich, dass freie Individuen aufeinander Bezug nehmen, dass jede individuelle Handlung Teil eines Netzwerks von Handlungen ist, dass aus der Mikroebene der Handlungen Gruppierungen wie Organisationen, Institutionen, Gesellschaft entstehen?

Es ist für S1 die umgekehrte Fragestellung wie in der ersten Quelle der Unbestimmtheit, sozusagen die Kehrseite der Medaille: Dort hat es geheißen "Welchen der sozialen Aggregate ist der Vorzug zu geben?" (vgl. S.51) und jetzt heißt es: "Welche soziale Kräfte determinieren die Handlungen der Akteure?" (z.B. S.77f.). Wiederum wird genau das, was in seiner Entstehung, kontroversen Bildung und Entwicklung untersucht werden soll, von S1 bereits vorausgesetzt (Gruppe bzw. soziale Kräfte).

Handeln ist ein Knoten, eine Schlinge, ein Konglomerat aus vielen überraschenden Handlungsquellen, die man eine nach der anderen zu entwirren lernen muss. (77)

4.2  Empirismus statt Vampirismus

Latour aktiviert die Metapher des Akteurs in Theater bzw. Kino. Er will damit verdeutlichen, dass es nicht auf de einzelne Schauspieler ankommt (vgl. Erving Goffman: Wie alle spielen Theater.), sondern auf das ganze Ensemble inklusive Bühnenbilder, Beleuchtung, Kameraführung etc.

Genauso wie die Ethnomethodologie (bzw. anthropologische Feldstudien) gehen ANT-ForscherInnen davon aus, dass sie den Akteuren genau zuhören müssen und sich von interpretativen Rahmen, Deutungen und Zuschreibungen, die ja bloß aus der Kultur bzw. der Metaebene des Wissenschaftlers stammen, hüten müssen. Statt eigene "Theorien" über die Akteure zu stülpen sind die Akteure ernst zu nehmen, statt eigenes Vokabular (Metasprache) zu verwenden, muss das Vokabular der Akteure als Ausgangspunkt beibehalten werden.

Aufzeichnen, nicht herausfiltern, beschreiben, nicht disziplinieren – sie sind die ehernen gesetze unseres Fachs. (97)

4.3  Vier Zugriffsmöglichkeiten für SozialwissenschaftlerInnen

Wie bei der Gruppenbildung gibt es wieder 4 Elemente um diese Kontroversen nachzeichnen zu können.

Handlungsträger ("Agencies") bzw. Akteure müssen präsent sein und etwas bewirken. Werden Handlungsträger beschrieben, dann muss vor allem über Handlungen und deren Wirkungen bzw. Spuren, die sie hinterlassen, berichtet werden.

Figuration heißt die konkrete Gestalt, die dem Handlungsträger verliehen wird. Es gibt immer verschiedene Möglichkeiten denselben Handlungsträger zu beschreiben. Diese unterschiedlichen Formen, Gestalten nennt Latour (in Anlehnung an Nobert Elias) Figuration. Es gibt immer verschiedene Arten denselben Akteur zu figurieren: Die amerikanische Regierung, Barack Obama, die Vereinigten Staaten, der US-amerikanische Kongress, viele Senatoren etc.Aktanten: Es gibt nicht nur menschliche Handlungsträger sondern auch nicht-humane "Existenzformen" von Handlungsträgern: Der Regenschirm schützt vor dem Regen, das Gas bringt das Wasser im Topf zum Kochen. Der aufgespannte Regenschirm ist wie das Wasser im Topf eine andere Figuration (Gestalt) des Regenschirms, der als Spazierstock getragen wird und das Wasser, das auf dem aufgespannten Regenschirm prallt. Um die anthropomorphe Schlagseite bei der Verwendung des Akteur-Begriffs zu überwinden, verwendet ANT den aus der Literaturwissenschaft stammenden Begriff des Aktanten.

Welche Handlungsträger werden in der Kontroverse zurückgewiesen, als illegitim angesehen, welche Handlungsträger werden hinzugefügt, wird Bedeutung zugemessen?

Welche Wirkungen wird den Handlungsträgern zugeschrieben? Das ist die Frage nach der Handlungstheorie, die von den Akteuren (nicht von den WissenschaftlerInnen!) vertreten wird. Hier ist – wie bei der Gruppenbildung – wiederum wichtig Zwischenglied und Mediator (Mittler) zu unterscheiden. Und: Diese Unterscheidung ist unabhängig davon ob es sich um eine abstrakte Figuration (z.B. "Stand der Produktivkräfte") oder um eine konkrete Figuration (z.B. "der neue deutsche Außenminister Guido Westerwelle") handelt.

4.4  Handeln ist unterbestimmt, nicht transparent, dis-lokal

Ich habe diesen Abschnitt absichtlich nicht "Handeln wird aufgehoben" getauft, um den von der etwas dunklen Hegel'schen Ausdrucksweise stammenden Begriff "Aufhebung" zu vermeiden. Für mich drückt sich darin die nach meinem Gefühl für die ANT nicht ganz richtige Vorstellung einer Spiralbewegung aus, wo auf einer "höheren Ebene" etwas Neues entsteht, dabei aber das Alte – in anderer Form – weiter wirkt bzw. beibehalten wird. Zum Unterschied davon finde ich den Neologismus "dis-lokal" für das Verständnis von ANT geeigneter und auch insgesamt aussagekräftiger. Keine Spiralbewegung oder dialektischer Widerspruch sondern eine Zerstreuung, eine Art von Auflösung im Raum scheint mir die richtigere Analogie zu sein und auch mit dem schon mehrmals strapazierten Vergleich mit der Physik (vgl. Quantentheorie) besser zusammen zu passen.

Vergleiche für diese Analogie die interessante Diskussion der Newsgroup de.sci.physik: Auf die Frage, was denn nun ein "Teilchen" sei, ob ein Quant auch stofflich zu verstehen sei oder nur eine Wirkung verursacht heißt es ungefähr in der Mitte des Diskussionsstranges (nach "dislokal" suchen):

Die Interferenz dieses Photons muß durch eine (dislokal wirksame) Wellenfunktion beschrieben werden, und sobald es wieder lokalisierbar ist, "kollabiert" diese wieder. Quanten scheinen es als erste Wahl "vorzuziehen", dislokal zu interferieren und erst dann wenn das wegen lokaler Definitheit nicht möglich ist lokal zu "kollabieren".

Der Neologismus "Dis-lokal" ist also bloß in den Sozialwissenschaften ein bisher nicht allgemein verwendete Begrifflichkeit. Er wurde von Cooren 2001 in The Organizing Property of Communication eingeführt um den (scheinbaren?) Widerspruch zwischen Mikro- versus Makroanalysen begrifflich "aufzuheben" - um bei der Hegel'schen Terminologie zu bleiben. Die Idee dahinter ist folgende Beobachtung:

SoziologInnen, die sich vor allem mit der Mikroebene beschäftigen (z.B: EthnomethodologiePhänomenologische SoziologieSymbolischer Interaktionismus), fokussieren auf das "Hier und Jetzt" ("here and now"), also auf kleinräumige, lokale, aktuelle, situationale Interaktionsfolgen bzw. Handlungstheorien. MakrosoziologInnen (z.B. SystemtheorieStrukturalismus bzw. Post-Strukturalismus) hingegen fokussieren auf das "Dort und Damals" ("there and then"), also auf großräumige, globale, allgemeine, strukturelle Interaktionsfolgen bzw. Handlungstheorien. Können bzw. sollen diese beiden unterschiedlichen Zugänge harmonisiert werden? Wenn ja - wie?

Die ANT-Wort ist ja! In Anlehnung an die Ethnomethodologie werden alltagspraktische Handlungen, also aktuelle, kleinräumige Situationen (Mikrosoziologie) untersucht. Dieser "Bottom-Up Ansatz" wird dann jedoch durch die Einbeziehung der Rolle nicht-humanen Akteure zeitlos und disloziert. Ein Beispiel von Cooren & Fairhurst soll dies verdeutlichen:

3 Tage lang wurde der Generalmanager eines 60-stöckigen Hochhauses mit einer Videokamera begleitet. Ziel der Feldarbeit war es ein besseres Verständnis von seinen alltäglichen Routinetätigkeiten zu gewinnen.  Während dieses Beobachtungszeitraums zeigte sich, dass bestimmte Vorschriften (z.B. eine Anschlagtafel beim Eingang) und Geräte (wie z.B. die TV-Überwachungskamera), die nach 9/11 eingeführt worden waren, eine wichtige Handlungsrolle übernommen haben:

  • Jeder Mieter kann nun nur mehr mit einem Sicherheitsausweis das Gebäude betreten. Wenn die Karte ungültig ist oder vom Lesegeräte nicht erkannt wird, dann ertönt im Büro des Überwachungspersonal ein Signal, das zur Handlung auffordert.
  • BesucherInnen hingegen haben – da sie keine gültigen Ausweise besitzen – sich in der Empfangshalle bei einem eigens installierten Reistrierungsgerät anzumelden und werden dort durch den Automaten auch auf die TV-Überwachungskamera hingewiesen.

Im Rahmen der Mikrosoziologie können die Beobachtungen der Verhaltensweise von Gästen (Außensicht durch "objektive" Beobachtung) nun folgendermaßen als sinnstiftende Handlungen (Innensicht durch Akteure) interpretiert werden:

  • Ich sehe eine Anschlagtafeln, die mich darauf hinweist, dass ich mich anmelden muss
  • Ich weiß – durch direkte oder indirekte Erfahrung –, dass ich bei einem (funktionierenden) Sicherheitssystem nicht ohne Anmeldung hinein komme.
  • Ich weiß – durch direkte oder indirekte Erfahrung –, dass normalerweise die Anmeldung für Gäste beim Eingang zu erfolgen hat
  • Daher: Ich muss mich bei der automatisierten Anlage in der Empfangshalle registrieren lassen.

Es fällt auf, dass alle angeführten Aktionen intentionale Handlungsfolgen eines menschlichen Akteurs sind ("Ich"). Zum Unterschied davon bezieht die ANT nun auch nicht-menschliche Akteure (wie die Anschlagtafel und die Überwachungskamera) in die Analyse ein. Es heißt dann:

  • Die Anschlagtafel weist die Besucher auf den Notwendigkeit der automatisieren Anmeldung in der Empfangshalle hin.
  • Die Anlage registriert die Besucher und weist sie auf die TV-Überwachungskamera hin.

Es fällt auf, dass in dieser (kürzeren) Beschreibung Verben/Tätigkeitswörter verwendet worden sind (hinweisen, registrieren), dh. dass auch nicht-humane Akteure handeln können, d.h. eine Veränderung bewirken können. Wäre die Anschlagtafel nicht dort wo sie ist und hätte sie nicht diesen Text, den sie hat, dann würden die Handlungsfolgen von Gästen ganz anders verlaufen. Weiters fällt auf, dass sich die nicht-menschlichen Akteure jeweils auf Menschen beziehen, d.h. es wird eine Subjet-Objekt Relation eingenommen (Anschlagtafel bzw. Anlage – Besucher), womit diese Beschreibungnicht nur kürzer sondern auch vollständiger ist.

Was ist aber nun der inhaltliche Vorteil dieser "ANTeren" Beschreibungsmethodik?

  1. Es werden in die Beschreibung der Szene die nicht-menschlichen Impulse für die menschliche Handlungen einbezogen. Im ersten Fall bleiben diese Handlungstrigger unberücksichtigt.
  2. Die automatische Registrationsanlage ersetzt das menschliche Empfangspersonal, darf jedoch nicht mit den Handlungen eines Portiers gleichgesetzt werden. Weder kann ein Pförtner 24/7 Stunden anwesend sein, noch kann eine automatisierte Anlage eine Ausnahme machen (etwa weil der Postbote ja bereits bekannt ist).
  3. Es wird damit ein Geflecht von aufeinander wirkenden (menschlichen und nicht menschlichen) Handlungstägern beschrieben, das nicht mehr  kleinräumig, situational und lokal ist: Die Zentrale der Anlage befindet sich nicht in der Empfangshalle, die Überwachungskameras werden ganz woanders ausgewertet, sind disloziert.
  4. Trotzdem die traditionelle Mikroebene  des "hier und jetzt" überwunden ist, wird keine Makroebene (Klassen-, Rollen-, Gesellschaftstheorie) für die Beschreibung benötigt. Es braucht kein theoretischer Rahmen "über gestülpt" werden.

How can we describe and analyze the details of interactions while showing that they literally contribute to the constitution of an organization? While this issue is hardly new, it is our hope that our answer will prove to be original. We undertake this analysis using a concrete situation to illustrate how “scaling up” occurs through actions that first appear to be locally performed. To do so, we will introduce concepts that have been developed by Bruno Latour (1986; 1994; 1996; 1999) to depict and analyze how non-human entities tend to not only dislocate interactions, but also stabilize them. This bottom-up perspective will then enable us to show that interactions are never completely local. Instead, they are what we call, using a neologism, “dis-local,” that is, their local achievement always mobilizes a variety of entities—documents, rules, protocols, architectural elements, machines, technological devices—that dislocate, i.e., “put out of place” (Webster’s Dictionary) what initially appeared to be “in place,” i.e., local. Our analyses will show that the “here and now” is always contaminated by the “there and then” (whether in the past or future). However, and this is the main point of our argument, this “there and then” was or will be another “here and now.” We never leave the level of events and actions even as these events become linked to one another through space and time. Paraphrasing Latour (1993) while giving it a Derridian flavor, we could say that the immanent (micro) is always already transcendent (macro).

(Abstract ausLocal? Global? No, Dislocal: How to Scale Up From Interactions to Organization, eine Vorversion des Beitrages Cooren François & Gail T. Fairhurst: "Dislocation and Stabilisation: How to Scale Up From Interactions to Organization" in Putnam, Linda, und Anne Nicotera. 2008. Building Theories of Organization: Centering Organizational Communication. 1. Aufl. Routledge. S.117-152.)

 

4.5  Was bedeutet es, dass Handeln nicht lokalisierbar, verschoben, verlagert, dislokal ist?

Die Überschrift des Kapitels der 3. Woche ("Handeln wird aufgehoben")  beeinhaltet den Begriff  der "Aufhebung", der aus der – zumindest für mich – etwas dunklen Hegel'schen Ausdrucksweise stammt. Für mich drückt sich darin die nach meinem Gefühl für die ANT nicht ganz richtige Vorstellung einer Spiralbewegung aus, wo auf einer "höheren Ebene" etwas Neues entsteht, dabei aber das Alte – in anderer Form – weiter wirkt bzw. beibehalten wird. Zum Unterschied davon finde ich den Neologismus "dis-lokal" für das Verständnis von ANT geeigneter und auch insgesamt aussagekräftiger. Keine Spiralbewegung oder dialektischer Widerspruch sondern eine Zerstreuung, eine Art von Auflösung im Raum, eine Nicht-Lokalisierbarkeit.

Wiederum: Eine Analogie mit der (Quanten) Physik

Zerstreuung, Auflösung im Raum, Nicht-Lokalisierbarkeit: Das bringt natürlich den schon einmal strapazierten Vergleich mit der Physik in den Fokus. Eine instruktive Passage für diese Analogie habe ich in einer Diskussion der Newsgroup de.sci.physik gefunden: Auf die Frage, was denn nun ein "Teilchen" sei, ob ein Quant denn auch stofflich zu verstehen sei oder nur eine Wirkung verursacht, heißt es ungefähr in der Mitte des Diskussionsstranges (nach "dislokal" suchen):

Die Interferenz dieses Photons muß durch eine (dislokal wirksame) Wellenfunktion beschrieben werden, und sobald es wieder lokalisierbar ist, "kollabiert" diese wieder. Quanten scheinen es als erste Wahl "vorzuziehen", dislokal zu interferieren und erst dann wenn das wegen lokaler Definitheit nicht möglich ist lokal zu "kollabieren".

Der Neologismus "Dis-lokal" ist also bloß in den Sozialwissenschaften eine bisher nicht allgemein verwendete Begrifflichkeit. Er wurde von Cooren 2001 in The Organizing Property of Communication eingeführt um den (scheinbaren?) Widerspruch zwischen Mikro- versus Makroanalysen begrifflich "aufzuheben" - um bei der Hegel'schen Terminologie zu bleiben. Die Idee dahinter ist folgende Beobachtung:

Den Widerspruch zwischen Mikro- und Makrosoziologie "aufheben"

SoziologInnen, die sich vor allem mit der Mikroebene beschäftigen (z.B: EthnomethodologiePhänomenologische SoziologieSymbolischer Interaktionismus), fokussieren auf das "Hier und Jetzt" ("here and now"), also auf kleinräumige, lokale, aktuelle, situationale Interaktionsfolgen bzw. Handlungstheorien. MakrosoziologInnen (z.B. SystemtheorieStrukturalismus bzw. Post-Strukturalismus) hingegen fokussieren auf das "Dort und Damals" ("there and then"), also auf großräumige, globale, allgemeine, strukturelle Interaktionsfolgen bzw. Handlungstheorien. Können bzw. sollen diese beiden unterschiedlichen Zugänge harmonisiert werden? Wenn ja - wie?

Die ANT-Wort ist ja! In Anlehnung an die Ethnomethodologie werden alltagspraktische Handlungen, also aktuelle, kleinräumige Situationen (Mikrosoziologie) untersucht. Dieser "Bottom-Up Ansatz" wird dann jedoch durch die Einbeziehung der Rolle nicht-humanen Akteure zeitlos und disloziert. Ein Beispiel von Cooren & Fairhurst soll dies verdeutlichen:

Drei Tage lang wurde der Generalmanager eines 60-stöckigen Hochhauses mit einer Videokamera begleitet. Ziel der Feldarbeit war es ein besseres Verständnis von seinen alltäglichen Routinetätigkeiten zu gewinnen.  Während dieses Beobachtungszeitraums zeigte sich, dass bestimmte Vorschriften (z.B. eine Anschlagtafel beim Eingang) und Geräte (wie z.B. die TV-Überwachungskamera), die nach 9/11 eingeführt worden waren, eine wichtige Handlungsrolle übernommen haben:

  • Jeder Mieter kann nun nur mehr mit einem Sicherheitsausweis das Gebäude betreten. Wenn die Karte ungültig ist oder vom Lesegeräte nicht erkannt wird, dann ertönt im Büro des Überwachungspersonal ein Signal, das zur Handlung auffordert.
  • BesucherInnen hingegen haben – da sie keine gültigen Ausweise besitzen – sich in der Empfangshalle bei einem eigens installierten Lesegerät, das mit einer Videokamera gekoppelt ist, zu registrieren.

Im Rahmen der Mikrosoziologie können die Beobachtungen der Verhaltensweise von Gästen (Außensicht durch "objektive" Beobachtung) nun folgendermaßen als sinnstiftende Handlungen (subjektive Innensicht durch Akteure) interpretiert werden:

  1. Ich sehe eine Anschlagtafeln, die mich darauf hinweist, dass ich mich anmelden muss
  2. Ich weiß – durch direkte oder indirekte Erfahrung –, dass ich bei einem (funktionierenden) Sicherheitssystem nicht ohne Anmeldung hinein komme.
  3. Ich weiß – durch direkte oder indirekte Erfahrung –, dass normalerweise die Anmeldung für Gäste beim Eingang zu erfolgen hat.
  4. Daher: Ich muss mich bei der automatisierten Anlage in der Empfangshalle registrieren lassen.

Es fällt auf, dass alle angeführten Aktionen intentionale Handlungsfolgen eines menschlichen Akteurs sind ("Ich"). Zum Unterschied davon bezieht die ANT nun auch nicht-menschliche Akteure (wie die Anschlagtafel und die Überwachungskamera) in die Analyse ein. Es heißt dann:

  • Die Anschlagtafel weist die Besucher auf den Notwendigkeit der automatisieren Anmeldung in der Empfangshalle hin.
  • Die Anlage registriert die Besucher durch die Personaldaten, die der Besucher eingibt und durch eine Portraitaufnahme mit der Videokamera und druckt dann eine magnetische Sicherheitskarte aus

Es fällt auf, dass in diese Beschreibung weniger Vermittlungsschritte verwendet. Gleichzeitig zeigt die Verwendung von Verben bzw. Tätigkeitswörter verwendet worden sind (hinweisen, registrieren), dass auch nicht-humane Akteure handeln können, d.h. eine Veränderung bewirken können. Wäre die Anschlagtafel nicht dort wo sie ist und hätte sie nicht diesen Text, den sie hat, dann würden die Handlungsfolgen von Gästen ganz anders verlaufen. Weiters fällt auf, dass sich die nicht-menschlichen Aktanten jeweils auf Menschen beziehen, d.h. es wird eine Subjet-Objekt Relation eingenommen (Anschlagtafel - Besucher bzw. Anlage – Besucher), womit diese Beschreibung nicht nur kürzer sondern auch vollständiger ist.

4.6  Vorteil der "ANTeren" Beschreibungsmethodik:

  • Es werden in die Beschreibung der Szene die nicht-menschlichen Impulse für die menschliche Handlungen einbezogen. Im ersten Fall bleiben diese Handlungstrigger nicht berücksichtigt.
  • Die automatische Registrieranlage ersetzt das menschliche Empfangspersonal, darf jedoch nicht mit den Handlungen eines Portiers gleichgesetzt werden. Weder kann ein Pförtner 24/7 Stunden anwesend sein, noch kann eine automatisierte Anlage eine Ausnahme machen (etwa weil der Postbote ja bereits bekannt ist).
  • Es wird damit ein Geflecht von aufeinander wirkenden (menschlichen und nicht menschlichen) Handlungsträgern beschrieben, das nicht mehr  kleinräumig, situational und lokal ist: Die Zentrale der Anlage befindet sich nicht in der Empfangshalle, die Überwachungskameras werden ganz woanders ausgewertet, sind disloziert.
  • Trotzdem die traditionelle Mikroebene  des "hier und jetzt" überwunden ist, wird keine Makroebene (Klassen-, Rollen-, Gesellschaftstheorie) für die Beschreibung benötigt. Es braucht kein theoretischer Rahmen "über gestülpt" werden.

Zum Abschluss nun noch ein langes Zitat, das diese Analyse in den Worten von Cooren & Fairhurst widergibt. Zitiert aus dem Abstract von: Local? Global? No, Dislocal: How to Scale Up From Interactions to Organization, eine Vorversion des Beitrages Cooren François & Gail T. Fairhurst: "Dislocation and Stabilisation: How to Scale Up From Interactions to Organization" in Putnam, Linda, und Anne Nicotera. 2008. Building Theories of Organization: Centering Organizational Communication. 1. Aufl. (Routledge: Oxford, S.117-152).

How can we describe and analyze the details of interactions while showing that they literally contribute to the constitution of an organization? While this issue is hardly new, it is our hope that our answer will prove to be original. We undertake this analysis using a concrete situation to illustrate how “scaling up” occurs through actions that first appear to be locally performed. To do so, we will introduce concepts that have been developed by Bruno Latour (1986; 1994; 1996; 1999) to depict and analyze how non-human entities tend to not only dislocate interactions, but also stabilize them. This bottom-up perspective will then enable us to show that interactions are never completely local. Instead, they are what we call, using a neologism, “dis-local,” that is, their local achievement always mobilizes a variety of entities—documents, rules, protocols, architectural elements, machines, technological devices—that dislocate, i.e., “put out of place” (Webster’s Dictionary) what initially appeared to be “in place,” i.e., local. Our analyses will show that the “here and now” is always contaminated by the “there and then” (whether in the past or future). However, and this is the main point of our argument, this “there and then” was or will be another “here and now.” We never leave the level of events and actions even as these events become linked to one another through space and time. Paraphrasing Latour (1993) while giving it a Derridian flavor, we could say that the immanent (micro) is always already transcendent (macro).

4.7  Das Alarmnetzwerk der WHO wieder als Fingerübung

Es wäre jetzt vielleicht wieder interessant das bereits diskutierte Beispiel zum Alarmnetzwerk von der WHO als Anwendungs- bzw. Übungsbeispiel her zu nehmen.

  • Wie können die Kontroversen zu den Handlungsträgern entfalten werden?
  • Welche Figurationen der Handlungsträger?
  • Wer handelt und warum? (Was sind die Handlungstrigger?)
  • Wo gibt es Handlungsketten von humanen und nicht-humanen Aktanten?
  • Die Frage nach der Nicht-Lokalisierbarkeit der Handlung muss bei diesem bereits im Ansatz globalen Netzwerk vielleicht umgedreht werden: Wie verschiebt sich, verlagert sich die Handlung? Worin besteht ihre Buntscheckigkeit, ihre Multiplizität? Wo ist das Rätsel, die Überraschung für Analytiker wie Akteure?

5    Dritte Quelle der Unbestimmtheit

In diesem Kapitel diskutiert Latour nach "Gruppe" und "handeln" eine  weitere Quelle der Unbestimmtheit: Wer ist alles Handlungsträger? Für Latour sind nicht nur Menschen sondern auch Objekte Handlungsträger. Diese Ansicht ist für Leute wie mich, die ein Studium der Soziologie hinter sich haben, schwer zu verkraften.

Eine der Schwierigkeiten mit ANT zu Rande zu kommen, besteht gerade darin, dass die beiden Grundbegriffe der Soziologie – "handeln" und "sozial" –  im Vergleich zum Mainstream der Soziologie ganz anders, zum Teil konträr, definiert werden. Meine Generation von SoziologInnen hat im Anschluss an Max Weber gelernt, dass Handeln auf menschliches Verhalten beschränkt ist und nur dann als Handeln gilt, wenn damit ein subjektiv gemeinter Sinn verbunden ist. Soziales Handeln ist hingegen dann gegeben, wenn Handeln auf das Verhalten anderer Menschen bezogen ist (§1 von Wirtschaft und Gesellschaft, Grundriß der verstehenden Soziologie, leicht nach unten scrollen).

Wenn ich mit einem Fahrrad gegen einen Stein fahre, dann ist das – weil unbeabsichtigt und mit keiner Intention und Sinn verbunden – kein Handeln sondern in der Diktion von Max Weber bloßes Verhalten. Auch ein unbeabsichtigter Zusammenstoß zweier Radfahrer ist demnach kein Handeln. Wenn ich aber jemand absichtlich über den Haufen fahre, dann ist es nach Weber ein soziales Handeln, weil es auf das Verhalten anderer Menschen bezogen ist. Allerdings handle nur ich, der diese Handlung plant und ausführt "sozial", der andere Fahrer, der vom Rad stürzt "verhaltet" sich nur. – Aber jetzt wird es – auch für Max Weber Fans – schwierig: Wenn der stürzende Radfahrer seinen Fall abzuschwächen versucht, handelt er da schon oder verhaltet er sich bloß?

Letztlich lässt sich die Unterscheidung von Weber nicht konsistent umsetzen. Ganz abgesehen davon, dass Menschen keine Zombies sind und immer eine Intention (Sinn) mit ihrem Verhalten verbinden (auch wenn es dann anders kommt als geplant), müssen die unterschiedlichen Deutungen immer explizit auf die beobachtbaren Spuren, den eigentlichen Bewährungsproben, bezogen werden. Die Entfaltung der Kontroverse darüber wer nun eigentlich Handlungsträger ist und wer nicht, haben wir bereits als zweiten Quelle der Unbestimmtheit kennen gelernt.

Nun aber kommt noch eine dritte Unbestimmtheit dazu: Weil Handlungsträger (agencies) für die ANT auch Objekte sein können, stellen sich zwei weitere Fragen:

  • Welche Objekte sind Handlungsträger?
  • Wie interagieren Objekte mit anderen Handlungsträgern, seien es nun Menschen oder nicht-menschlichen Entitäten?

5.1  Soziales Nr. 3

In diesem Kapitel taucht eine weitere Definition von "sozial" auf. Rekapitulieren wir den bisherigen Stand der ANT-Konzepte zum Grundbegriff "sozial" und ergänzen ihn mit der Bedeutung Nr. 3:

Soziales Nr. 1: Darunter versteht ANT die in der Mainstream-Soziologie herrschende Vorstellung von sozialen Bindungskräften, die gewissermaßen als Kitt für den Zusammenhalt der Gesellschaft verantwortlich sind. Soziales Nr.1 wird als eigener Realitätsbereich vorgestellt. Beispielsweise geht Habermas in seiner Theorie des kommunikativen Handelns davon aus, dass die Orientierung an den drei universell in der Sprache innewohnenden Geltungsansprüchen (objektiver, subjektiver und sozialer Geltungsanspruch) diesen Zusammenhalt gewährleistet.

Soziales Nr.2: Die ANT hingegen versteht unter "sozial" keinen eigenen Realitätsbereich, Gegenstand oder Stoff sondern eine Bezeichnung für eine Bewegung, Verschiebung (displacement), Transformation, Übersetzung, Einschreibung1 (enrollment). Soziales Nr.2 "bezeichnet eine Assoziation zwischen Entitäten, die in keiner Weise als soziale erkennbar sind, außer in dem kurzen Moment, in dem sie neu [zusammen]gruppiert (sic!) werden." (112)

Soziales Nr.3: Darunter versteht die ANT die "lokalen, nackten, dynamischen, ausrüstungslosen face-to-face-Interaktionen" (112). Es ist dies das soziale Handeln nach Weber, allerdings noch etwas weiter eingeschränkt: Menschen beziehen sich zwar auf andere Menschen aber nur der direkte unmittelbare ("nackte") Kontakt, face-to-face-Interaktion zählt als "sozial". Die Frage eines Studenten an seine Professorin im Büro während der Sprechstunde zählt als Soziales Nr.3, das Schreiben dieser Frage als E-Mail zählt schon nicht mehr dazu.

Ich habe schon vor langer Zeit – damals noch ganz in der Tradition von Max Weber und Alfred Schütz – darauf hingewiesen, dass dies im Zeitalter der interaktiven Medien eine unzulässige Einschränkung darstellt. (vgl. meinen Artikel: Von face to interface. Die Mensch-Computer-Interaktion als geschlossener Sinnbereich.) Ganz abgesehen davon, dass die Grenzen fließend sind: Wenn ein Telefonat zweier Menschen von den VertreterInnen des Sozialen Nr. 3 sicherlich noch nicht als face-to-face Interaktion durchgeht (schließlich ist kein face-to-face Kontakt vorhanden), wie sieht das bei einer Videokonferenz aus? (Normalerweise fällt auch das nicht unter face-to-face, sondern es wird darauf verwiesen, dass es um die unmittelbare körperliche Präsenz geht, die in der Interaktion für eine Sinndeutung vorhanden sein muss.)

Die Kritik von Latour an Soziales Nr.3 ist eine grundsätzliche: Mit Hinweis auf die Untersuchungen von Shirley Strums zu Pavianen macht Latour (selbst Anthroploge) deutlich, dass soziale Bindungen ohne Hilfsmittel sich nur schwer aufrecht erhalten lassen. Ohne Hilfsmittel müssen diese sozialen Bindungen immer neu verhandelt werden ("Beziehungsarbeit") und können sich zeitlich und räumlich kaum ausdehnen.

Jedesmal wenn wir die Ausdehnung einer beliebigen Interaktionsfolge in Zeit und Raum erklären wollen, müssen wir die praktischen Mittel für diese Ausdehnung aufspüren (vgl. 114). Aus diesem Grund ist auch Soziales Nr.3 als Grundbegriff für die Sozialwissenschaften zu eng gefasst und müssen wir uns den Objekten, Dingen und Instrumenten zuwenden, die diese Bindungen aufrecht erhalten.

5.2  Das Spektrum der Handlungsträger erweitern

Diese Zuwendung zu Objekten kommt einer Erweiterung des Spektrum der Akteure gleich: Wir haben ja bereits bei der zweiten Quelle der Unbestimmtheit erfahren, dass unter Handlung all das verstanden wird, was eine gegebene Situation verändert und daher einen Unterschied ausmacht. In diesem Sinne sind aber auch Objekte Handlungsträger. Jedes Ding, das eine gegebene Situation verändert, indem es einen Unterschied macht, ist ein Akteur (vgl.123).

Damit wir nicht schon von unserer Alltagssprache beeinflusst werden bieten sich folgende Übersetzungen der Begrifflichkeiten für Menschen und nicht-menschliche Handlungsträger an:

Human Non-Human
Handeln (inter)agieren2
Akteur = Handlungsträger (Agentur, Agency),
der bereits figuriert ist, dh eine Gestalt angenommen hat
Aktant = Handlungsträger (Agentur, Agency),
der noch nicht figuriert ist, dh. dem noch keine Gestalt verliehen wurde
Agent Existenzform, Seinsweise
Mensch Objekt,
Ding, Entität

 

Objekte, Geräte, Instrumente wie Hinweisschilder, Türschließer, Schlüssel und andere nicht-menschliche Entitäten können also an einem Handlungsverlauf beteiligt sein. Obwohl diese Entitäten Handlungen nicht determinieren (Obstkörbe "verursachen" nicht das Halten von Obst, Hämmer "erzwingen" nicht das Einschlagen von Nägel) sind sie auch nicht bloß als allgemeiner und abstrakter Hintergrund für menschliches Verhalten zu sehen.  Sie können zwar nicht determinieren, aber doch ermöglichen, ermächtigen, anbieten, ermutigen, erlauben, nahelegen, beeinflussen, verhindern, autorisieren etc.

Der Slogan "Den Akteuren folgen" wird dann zu: "Den Akteuren folgen, wenn sie sich ihren Weg durch die Dinge bahnen, die sie den sozialen Fertigkeiten hinzugefügt haben, um die ständig sich verschiebenden Interaktionen dauerhafter zu machen." (118)

Ein weiterer wichtiger Punkt in der Einbeziehung der Objekte als Handlungsträger besteht darin, dass Objekte auch für die Analyse von Ungleichheiten und Machtbeziehungen relevant sind, indem ihnen Handlungspotential übertragen wird. Das berühmte Zitat von Mao Tse-Tung "Die politische Macht kommt aus den Gewehrläufen" drückt dies drastisch aus. Nun könnte man freilich sagen – und die Vertreter des freien Waffenzugangs tun dies auch – dass es nicht die Waffe ist, die tötet, sondern der Mensch, der sie bedient. Aber es ist gerade diese Kombination, dieser Hybrid von Mensch-Gewehr der tötet, der Mensch tötet mit der Waffe. Es macht einen großen Unterschied ob es sich bei dem verwendeten Objekt um ein Gewehr, ein Messer oder um eine Atombombe handelt.

Das Verfolgen des Handlungsverlaufs wird für SoziologInnen nun aus mehreren Gründen deutlich schwieriger:

  1. Nun müssen wir nicht nur die Kontroverse über den Ursprung von menschlichen, sondern auch von nicht-menschlichen Handlungsträgern entfalten.
  2. Dazu müssen wir die dritte Quelle der Unbestimmtheit verarbeiten und die besonderen Existenzformen von Objekten untersuchen. Und das ist besonders schwierig, weil
  • Objekte nicht nur physische Dinge sind, die haptisch erfahrbar, greifbar und stofflich sind, wie Bleistifte, Türschilder, Schlüssel etc. sondern auch z.B. U-Bahnen und Bahnsteige, Straßen und Streßenverkehrsordnung, elektronische Dateien und Dateiorganisation, also auch intellektuelle Technologien darunter zu fassen sind.
  • Dinge – zum Unterschied von Menschen – nicht von sich aus sprechen, sondern zum "Sprechen" erst von den SozialwissenschafterInnen gebracht werden müssen
  • Wie bei den anderen Unbestimmtheiten in ihrer Existenzform als Handlungsträger nur kurzzeitig sichtbar sind, nämlich dann wenn sie sich versammeln (assoziieren).
  1. Dazu kommt noch, dass es keine Kontinuität des Handlungsverlaufs gibt, dass eine Handlungsgeflecht nicht nur aus Mensch-Mensch oder Objekt-Objekt-Verbindungen bestehen, sondern dass der Handlungsverlauf in einem Zick-Zack-Kurs (z.B. Mensch-Objekt-Objekt-Mensch-Mensch-Objekt) verläuft und dabei verschoben, übersetzt, transformiert wird.

5.3  Vier Strategien um Objekte zum Reden zu bringen

Wie bei den anderen Unbestimmtheiten stellt Latour eine Liste von 4 Forschungsstrategien zusammen, wie der Prozess des Versammelns (der Assoziation) verfolgt werden kann. Zum Unterschied von den anderen beiden Unbestimmtheiten (Gruppen und menschlichen Handlungsträgern) können nicht selbst reden. Daher müssen spezifische Tricks erfunden werden, damit Dinge in die Lage versetzt werden Beschreibungen ihrer selbst (=Skripte) anbieten.

  1. Innovationen am Entstehungsort studieren: In die Brutstätten des Handlungsursprungs gehen, d.h. die Werkstatt des Handwerkers aufsuchen, die Entwicklungsabteilung des Ingenieurs besuchen, im Labor des Wissenschaftlers den dortigen Aktivitäten beiwohnen aber auch in den Wohnungen der Mieter gehen, die Schlafplätze der Obdachlosen begehen etc.
  2. Distanz zu den Objekten schaffen:Das Problem mit Gebrauchs- und Alltagsgegenständen ist, dass sie uns gar nicht besonders auffallen, dass wir sie – wenn überhaupt – nur als Zwischenglied sehen und nicht als Mediatoren (Mittler), d.h. als jene spezifischen Werkzeug, die den kleinen, aber oft entscheidenden Unterschied erzeugen. SozialwissenschaftlerInnen müssen lernen sich über ihre Untersuchungsgegenstände zu wundern, sie als fremde, verwirrende Objekte auffassen. Zum Unterschied von Archäologen (zeitliche Distanz) und Ethnologen (räumliche Distanz) müssen sie jedoch die Situation der Neuheit häufig durch eine künstliche Nutzungsdistanz schaffen (siehe 4. Strategie).
  3. Unfälle, Defekte, Pannen, (Medien-)Brüche untersuchen:Unterbrechungen des normalen Gebrauchs, des normalen Handlungsverlaufs machen die Schnittstellen sichtbar, ihre Eigenheiten und  Voraussetzungen deutlich. Wenn etwas nicht (mehr) funktioniert, wird oft erst klar, was die nicht ausgesprochene Bedingungen für den Normalbetrieb waren. Im Krisenfall wird das immer klaglos funktionierende Zwischenglied plötzlich deutlich sichtbar zum Mittler, zum Verursacher.
  4. Künstlich eine Entfremdung bzw. einen Krisenzustand herstellen:Über Archive, Dokumente, Berichte von Zeitzeugen (Oral History) und Historikern können Gebrauchsgegenstände wieder zu Mittlern bzw. Mediatoren transformiert werden. Mithilfe der Fiktion können Ent- bzw. Verfremdungsszenarien (Rollenspiel, Simulation, kontrafaktische Geschichten, Gedankenexperimente etc.) geschaffen werden, die Objekte in ihrer Mittler-Eigenschaft (kurzzeitig) sichtbar machen können.

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1 Im deutschen Text wird "enrollment" mit "Anwerbung" übersetzt. Von der Sekundärliteratur wird aber darauf hingewiesen, dass der Begriff der "Einschreibung" für ANT zentral ist, den ich als Übersetzung von "enrollment" auch für geeigneter halte

2 Im deutschen Text wird bloß vom "agieren" gesprochen.

 

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