GLL-01: 1. Woche: Einige Erläuterungen zum Text

Ich habe bereits erwähnt, dass der Einleitungstext nicht ganz einfach zu lesen ist. Neben einer noch unverständlichen Vorschau, einem nur für Spezialisten verständlichen Rückblick der Ursprünge von ANT, sind es auch einige Fachbegriffe, die Schwierigkeiten machen. Auch gibt es einige wichtige Unterschiede zur (späteren) deutschen Version, bei der die inzwischen erschienene französische Ausgabe herangezogen wurde. Zu all diesen – wichtigen oder aber auch unwichtigen – Kleinigkeiten folgen nachfolgend einige Anmerkungen. (Wobei bitte zu bedenken ist, dass ich nur die deutsche + englische Version vor mir habe und leider auch nicht französisch kann.)


Ich habe bereits erwähnt, dass der Einleitungstext nicht ganz einfach zu lesen ist. Neben einer noch unverständlichen Vorschau, einem nur für Spezialisten verständlichen Rückblick der Ursprünge von ANT, sind es auch einige Fachbegriffe, die Schwierigkeiten machen. Auch gibt es einige wichtige Unterschiede zur (späteren) deutschen Version, bei der die inzwischen erschienene französische Ausgabe herangezogen wurde. Zu all diesen – wichtigen oder aber auch unwichtigen – Kleinigkeiten folgen nachfolgend einige Anmerkungen. (Wobei bitte zu bedenken ist, dass ich nur die deutsche + englische Version vor mir habe und leider auch nicht französisch kann.)

Versammeln (to assemble):

Ich hatte zu Beginn ganz große Schwierigkeiten mit diesem Begriff, der in der Standard-Soziologie nicht üblich ist. Es wird vielleicht ein wenig klarer, wenn ein Bedeutungswörterbuch zu Rate gezogen wird. Da überrascht zum Einen, dass es zwei Bedeutungen gibt (siehe dazu auch das FreeDictionary):

  1. Jemand versammelt jemanden irgendwo, d.h. mehrere Personen an einem Ort zusammenkommen lassen: z.B. "Der Direktor versammelte Schüler und Lehrer in der Pausenhalle." – Hier wird das Verb "versammeln" mit einem Objekt verwendet.
  2. Sich versammeln, d.h. mehrere Personen kommen an einem Ort zusammen: z.B. "Zur verabredeten Zeit versammelten sich alle Mitarbeiter zu einer Besprechung."

Das Problem mit versammeln besteht vor allem darin, dass es sich auf Personen bezieht und daher sprachlich in eine andere Richtung abzielt, als es Latour intendiert. Bei versammeln sollen sich auch nicht-menschliche Akteure (bzw. Aktanten). Ich glaube daher, dass es für die deutsche Übersetzung besser gewesen wäre, die Wörter verbinden oder verknüpfen zu verwenden. Vor allem bei "verknüpfen" liegt offensichtlich mit seinen Synonymen verbinden und assoziieren sehr eng an den intendierten Bedeutungszusammenhang.

Andererseits – und das ist die zweite Überraschung – führt das Bedeutungswörterbuch als Oberbegriff interagieren an! Das ist nun ein Begriff, der sowohl im menschlichen als auch nicht-menschlichen Bereich Sinn macht und verweist darauf, dass "Versammeln" doch nicht so schlecht gewählt ist:  Allerdings ist "interagieren" als Oberbegriff zu allgemein. Auch ablehnen, abstoßen wäre eine Form der Interaktion, aber das genaue Gegenteil der intendierten Wortbedeutung. Vielleicht wäre daher das etwas unschöne deutsche Wort zusammenkommen die beste Übersetzung gewesen? Sowohl Menschen kommen zusammen, als auch nicht-menschliches wie Geld, Arbeit kommt zusammen, z.B. "In meiner Abwesenheit ist einiges an Arbeit zusammengekommen" oder "Bei der Sammlung sind fünfhundert Euro zusammengekommen." (vgl. dazu auch das FreeDictionary.)

Koextensiv, Metamorphose und Oxymoron

Gerade dort, wo Latour erklärt (10-12), wie sich der Bedeutungszusammenhang von Sozio-logie verändert, erschweren drei Fremdwörter und eine unglückliche Übersetzung das Verständnis:

Koextensiv (coextensive) heißt flächen-, deckungs- aber auch inhaltsgleich. Wenn auch noch die unglückliche Übersetzung von intercourse nicht mit "Vekehr" (offensichtlich hatte der Übersetzung sich auf die Hauptbedeutung wie z.B. in "sexual intercourse" angelehnt) sondern mit "Umgang" übersetzt wird, dann wird  der Satz auf Seite 11 verständlicher. (In eckiger Klammer meine Übersetzung):

Man hatte keine Vorstellung davon, daß [dass] die Ausbreitung der Wissenschaft diese eines Tages nahezu koextensiv [inhaltsgleich] mit dem Rest des gesellschaftlichen Verkehrs [Umgangs] machen könnte.

Damit liest sich Seite 10-11 etwa: Der Bedeutungsumfang von Sozio-logie hat sich mit der Zeit verengt: Einerseits wurde die Wissenschaft immer wichtiger und ist heute nicht nur – wie noch während der Modernisierung – bloß ein mächtiger Antriebsfaktor, sondern hat inzwischen nicht nur die Poren der gesamten Gesellschaft durchdrungen sondern bremst heute inzwischen sogar in manchen Fällen den gesellschaftlichen Fortschritt. Andererseits hat damit auch unsere Gesellschaft einen radikalen Wandel durchlaufen und ist auf das Engste mit Technik und Wissenschaft verknüpft.

Es ist nicht länger klar, ob es Beziehungen gibt, die spezifisch genug sind, um sie als "soziale" zu bezeichnen, und die sich zusammen gruppieren las-/sen, um eine besondere Sphäre namens "Gesellschaft" zu bilden. Das Soziale scheint sich überall verfülcht6igt zu haben und doch nirgendwohin im besonderen. Weder Wissenschaft noch Gesellschaft sind stabil genug geblieben, um die Versprengen einer strengen "Sozio-logie" einlösen zu können." (11/12)

Dieser doppelte radikale Umbruch von Gesellschaft und Wissenschaft ist das, was Latour als doppelte Metamorphose (Wandel) bezeichnet. Und genau diese Entwicklung ist es, die auch durch eine doppelte Metamorphose (meine Diktion, pb) der Sozialwissenschaft widerspiegelt werden muss: Den Wandel in Inhalt und Methode der Soziologie!

Es ist daher kein Zufall, dass ANT vor allem aus dem Bereich der Technik- und Wissenschaftsstudien (Science and Technology Studies, STS) Fachgebiet in dem Bruno Latour als gelernter Anthropologe jahrzehntelang tätig war, entwickelt wurde. Dementsprechend bezeichnet Latour die Bezeichnung der "Wissenschaftssoziologie" als Oxymoron, als Widersprich in sich: Die Verknüpfung von Wissenschaft und Gesellschaft ist bereits vollzogen, eine Wissenschaftssoziologie demnach eine Tautologie.

Aufgrund der vielen Paradoxien, zu denen dieses lebendige und perverse Fachgebiet geführt hat, sowie der zahlreichen Veränderungen in der Bedeutung von "Wissenschaft" denke ich, daß der Zeitpunkt gekommen ist zu modifizieren, was unter "sozial" zu verstehen ist. Daher möchte ich eine alternative Definition für "Soziologie" entwickeln, dabei dieses nützliche Etikett gleichwohl beibehalten und, wie ich hoffe, der traditionellen Berufung dieser Disziplin treu bleiben. (12)

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert