MOOCs unter ANT-Perspektive

Gleich am ersten Tag meiner Gastprofessur hier in Umeå/Schweden hatte ich Gelegenheit einen Vortrag von Marisa Ponti zu MOOCs unter ANT-Perspektive zu hören. Das war für mich dann gleich aus zwei Gründen interessant: Einerseits wegen des MOOC-Themas, andererseits aber auch, weil der theoretischen Ansatz der Actor-Network Theory (ANT) verwendet wurde.

Marisa Ponti
Marisa Ponti

Gleich am ersten Tag meiner Gastprofessur hier in Umeå/Schweden hatte ich Gelegenheit einen Vortrag von Marisa Ponti zu MOOCs unter ANT-Perspektive zu hören. Das war für mich dann gleich aus zwei Gründen interessant: Einerseits wegen des MOOC-Themas, andererseits aber auch wegen des theoretischen Ansatzes der Untersuchung, da ich mich ja selbst bereits ausführlich mit der Actor-Network Theory (ANT) auseinandergesetzt habe (siehe meine Internet-Lesereise GLL – "Gemeinsam Latour lesen").

A bad MOOC risin'

In ihrem Vortrag “Artifacts Rule! The Role of Artefacts in an Unfacilitated MOOC” untersucht Marisa den Mechanical MOOC “A Gentle Introduction to Python”, der ganz ohne Lehrenden auskommt.

Hotelschluessel
Der Hotelschlüssel mit schwerem Anhänger als Beispiel für einen nicht-menschlichen Handlungsträger (Foto von Jonathan Werner – designfire.de)

Einer der forschungsmethodologischen Konsequenzen des ANT-Ansatzes ist es, dass nicht nur – wie in anderen sozialwissenschaftlichen Ansätzen – den (menschlichen) AkteurInnen gefolgt wird (beispielsweise durch Interviews, Beobachtung etc.), sondern, dass auch Objekte als (nicht-menschliche) Akteure handlungsrelevant und daher zu untersuchen sind. Als prominentes Beispiel von Latour wird häufig Der Berliner Schlüssel 1 zitiert, der wegen seiner schweren gußeisernen Anhänger dem Hotelgast "auffordert" ihn bei der Rezeption abzugeben. Das (von Menschen gemachte) Design des Schlüssel hat diese "Aufforderung" in das Artefakt "eingeschrieben" und es damit zu einem (nicht-menschlichen) Handlungsträger gemacht.

Unter dieser Perspektive untersucht Marisa verschiedene MOOC-Artefakte, wie z.B. das Belohnungs-Bewertungssystem. Sie geht aber – und das finde ich sehr schade – explizit nicht darauf ein, inwieweit dann diese Artefakte auch tatsächlich die Lernerfahrung (positiv wie negativ) beeinflussen. Ihr geht es v.a. um die Tragfähigkeit der ANT-Perspektive für die Untersuchung von MOOCs. so fragt sie z.B.

  • Welche Erwartungshaltung zur Lernunterstützung und LernerInnen-Beteiligung haben die MOOC-Designer bei der Entwicklung der jeweiligen Artefakte?
  • Wie "schreiben" sie diese – ihre Wünsche – in diese Objekte "ein"?
  • Wie schwierig ist es diesen "Einschreibungen" zu widerstehen?

Gemeinsam lernen – lebensweltliche Perspektiven

Mich hat der Vortrag von Marisa gleich zu einer weiteren Fragen motiviert: Warum braucht es eigentlich synchrone Kurse, wo Menschen zur gleichen Zeit lernen, wo doch sowieso keine Lehrenden vorhanden sind? Worin besteht eigentlich der (große?) Unterschied zwischen "einsamen" Lernen aus Materialquellen und "gemeinsamen" Lernen?

Als ersten Hinweis für meine Überlegungen mag die phänomenologische Sicht einer Soziologie der Lebenswelt dienen, wie sie Alfred Schütz in "Gemeinsam Musizieren" beschreibt. Ich möchte hier ein ausführliches Zitat aus einem Papier zitieren, das ich im Internet bei meiner Google-Suche nach "gemeinsam musizieren alfred schütz" gefunden habe Download als PDF, 836 kB'>2

… Im Mittelpunkt steht dabei das gemeinsame timing. … Anhand gemeinsamen Musizierens läßt sich nach Auffassung von Alfred Schütz analysieren, "was man das »wechselseitige Sich-aufeinander-einstimmen« nennen kann, worauf allein alle Kommunikation gegründet ist" (Schütz 1951, 132) 3. In der Terminologie orientiert an Bergson und dessen Begriff der "inneren Dauer" des Erlebnisflusses, der durée, formuliert er weiter: "Diese Beziehung (also das »wechselseitige Sich-aufeinander-einstimmen«, CR.) wird durch die reziproke Teilhabe am Erlebnisfluß des anderen in der inneren Zeit hergestellt, indem man eine gemeinsame lebendige Gegenwart durchlebt und indem man dieses Zusammensein als ein 'wir' empfindet" (a.a.O., 149).

Ein weiterer wichtiger Aspekt, der aus meiner Sicht hochspannend und zu untersuchen wäre, besteht darin, dass das gemeinsame Lernerlebnis solch eines MOOC-Kurses einer virtuelle Teilhabe entspricht, während für die Klassiker der Phänomenologie (Husserl, Bergson, Merleau-Ponty aber auch Heidegger) gemeinsames Erleben eine Form von Intersubjektivität darstellt, die eine  leibgebundene Teilhabe (bzw. Beziehung) als Grundlage hat, also eine gegenseitige Körperwahrnehmung voraussetzt.

Aus diesem Grund übrigens habe ich in meiner Taxonomie von Unterrichtsmethoden 4. "Körperwahrnehmung" als eine meiner 26 didaktischen Dimensionen erwähnt, die zentral für den Unterschied zwischen Face-To-Face-Lernen und E-Learning verantwortlich ist. Systematisch untersucht aber hat den Einfluss der Körperwahrnehmung auf den Lernprozess aber – meines Wissens zumindest – noch niemand.

Fußnoten

  1. Latour, Bruno. 1996. Der Berliner Schlüssel: Erkundungen eines Liebhabers der Wissenschaften. Oldenbourg Akademieverlag.
  2. Christian Rolle: "Der Rhythmus, daß ein Jeder mit muß" (PDF, 836kB) – Zur Leiblichkeit ästhetischer Erfahrung". In: Helmut Rösing (Hrsg.): "Grundlagen Theorien Perspektiven" Bd. 14 von "Beiträge zur Popularmusikforschung", S.20-33. Arbeitskreis Studium Populärer Musik: Baden-Baden, 1994. Download als PDF, 836 kB
  3. Schütz, Alfred (1951): Gemeinsam Musizieren. In: Gesammelte Aufsätze Bd.2 (hrsg.v. A. Brodersen). S. 129-150. Den Haag: Martinus Nijhoff 1972.
  4. Baumgartner, Peter. 2011. Taxonomie von Unterrichtsmethoden: Ein Plädoyer für didaktische Vielfalt. Waxmann Verlag.

Von Peter Baumgartner

Seit mehr als 30 Jahren treiben mich die Themen eLearning/Blended Learning und (Hochschul)-Didaktik um. Als Universitätsprofessor hat sich dieses Interesse in 13 Bücher, knapp über 200 Artikel und 20 betreuten Dissertationen niedergeschlagen. Jetzt in der Pension beschäftige ich mich zunehmend auch mit Open Science und Data Science Education.

2 Antworten auf „MOOCs unter ANT-Perspektive“

Lieber Peter,

du greifst dankenswerter Weise das Thema „Körper/Leib“ auf, weil es hierzu im Kontext e-Learning/MOOCs offenbar an systematischen Gedanken mangelt. Dich interessieren die Bedingungen für GEMEINSAME Lernprozesse (body-to-body-Situation versus virtuelle Teilhabe), deshalb der Hinweis zum Musizieren und zum timing (wechselseitiges Sich-aufeinander-einstimmen) bei A. Schütz.

Hierzu zwei Anmerkungen und einen Vorschlag:
Im Buch von Fritz Böhle & Margit Weihricht (s.u.) geht es genau um diese KÖRPERLICHE Mikrofundierung sozialer Ordnung. Sie schreiben: „Die hier versammelten Autorinnen und Autoren fragen nach der Rolle der körperlich-leiblichen Verfasstheit des Handelns für die Generierung sozialer Ordnung. Wir gehen davon aus, dass der Gegenstand einer soziologischen Erklärung nicht die individuellen Handlungen einzelner Akteure sind, sondern die »Muster des Sozialverhaltens«, die auf dem Zusammenspiel von Einzelhandlungen aufruhen. Es interessiert uns insbesondere, mithilfe welcher sozialen Mechanismen Akteure ihr Verhalten so aufeinander abstimmen, dass die beobachteten Muster entstehen“ Und etwas weiter: „Wir stellen die Frage, wie eine Mikrofundierung des Sozialen aussehen kann, die diese »Gesellschaft in den Köpfen« mit der Körperlichkeit der Akteure verbindet und welche Rolle die Tatsache, dass Menschen einen Körper haben und Körper sind, für soziale Abstimmungsprozesse spielt.“ http://www.transcript-verlag.de/ts1309/ts1309_1.pdf

Bezüglich des „Abstimmungsproblems“ gibt es innerhalb des Buches einen sehr spannenden Beitrag von Frau Figueroa-Dreher zum Free Jazz. Man kann fragen: „Wer stimmt hier was und wie ab?“ Es gibt ja per Definition im Free Jazz keinen Plan, kein vorab definiertes Thema! Free steht irgendwie im Widerspruch zu Plan, oder? Die Autorin sagt hierzu: „Für Free-Jazz Musiker bedeutet es zunächst einmal, sich mit den eigenen Klängen auf die Klänge der anderen zu beziehen“ (S. 202) … dabei spielen Wiederholung (Repetition) und Nachahmung (Imitation) eine wesentliche Rolle in der gegenseitigen „Bezugnahme“ und Musterbildung. Die Spieler stimmen sich also nicht ab zu einem vorab definierten Masterplan, einem Orchesterleiter, der den Takt bzw. eine Ordnung vorgibt, sondern die Abstimmung ist RELATIV zu jedem Einzelspieler, es geht um den Prozess DES Ordnens, wobei das flüchtige Produkt (Musik) ästhetischen Ansprüchen der Spieler selber genügen muss. Fehler oder Missverständnisse im Abstimmungsprozess müssen dabei keineswegs „ästhetisch wertlos“ sein, … auch ein interessanter Aspekt. http://www.frank-vohle.de/node?page=4

Ich finde dieses Themenfeld „Körper/Leib/Abstimmungsprozesse/soziale Ordnung/body-to-body vs. virtuelle Teilhabe/MOOC-Diskussion“ wie du sie angestiftet hast spannend. Wäre es eine Idee, einer deiner zukünftigen Forschungswerkstätten zu diesem Thema auszurichten??? Vielleicht könnte man Herrn Prof. Böhle als Referent gewinnen??

Gruß! Frank

Lieber Frank,

Ich halte mich kurz – wir fahren gerade quer durch Schweden mit dem Mietauto: Ja, Du hast Recht; ein spannendes Thema, das noch viel zu wenig bearbeitet ist. Ich wollte mal bereits eine Forschungswerkstatt zu diesem Thema machen, es ist aber dann – ich weiß nicht mehr warum – nicht dazu gekommen.

Ich melde mich noch einmal ausführlicher zu diesem Thema!

Liebe Grüße aus Östersund

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