Das ist der erste Artikel, eine der neuen Serien zu Werkzeugen, die ich im letzten Posting angekündigt habe. Hypothesis Webservice1 ist ein Werkzeug für das offene und soziale Kommentieren digitaler Formate (HTML, PDF, EPUB).
Aus Gründen der Übersichtlichkeit habe ich meine Beschreibung von Hypothesis Webservice in mehrere Beiträge unterteilt:
- Dieser Artikel hier behandelt in Form eines kleinen Tutorials die Vorteile und Nutzung von Hypothesis Webservice.
- Ein gesonderter Beitrag behandelt die vielseitigen Möglichkeiten der Implementierung von Hypothesis Webservice (Installation und Nutzung).
- Ein weiterer Beitrag diskutiert eine Empfehlung zum Zitieren. Darin wird gezeigt, wie Kommentare, die mit Hypothesis Webservice erstellt wurden, mithilfe von Zotero referenziert werden können.
- Außerdem gibt es mit der Buchrezension von Annotation einen allgemein gehaltenen Beitrag zum web-basierten Kommentieren.
Vorteile von Hypothesis Webservice
Im Vergleich zum Abschicken eines Kommentars am Ende dieser Seite, haben Sie mit Hypothesis Webservice wesentlich erweiterte Möglichkeiten:
- Sie können die Stelle markieren, auf die sich Ihr Kommentar bezieht. Damit können Sie direkt auf konkrete Textpassagen Bezug nehmen.
- Sie können entscheiden, ob Ihr Kommentar nur für Sie privat, für eine Gruppe eingeladener Personen oder aber ganz öffentlich, d.h. für alle sichtbar ist.
- Sie können – wie hier im WordPress Forum – auf einzelne Kommentare antworten, dabei neben Links und Bilder aber auch Videos als Kommentare einbinden.
- Damit Sie einzelne Kommentare besser finden, können Sie Ihnen Schlagwörter zuordnen.
- Alle Ihre Kommentare – egal auf welcher Webseite sie verfasst wurden, werden auf Ihrer Hypothesis Profilseite (Dashboard) aufgelistet. Sie können die Liste Ihrer Kommentare nach Schlagwort, Benutzer:in, URL oder Gruppennamen filtern.
- All diese Vorteile gelten nicht nur für "normale" Webseiten, sondern auch für PDFs und EPUB E-Books, die über Internet-Adressen zugänglich sind.
Als Nachteil empfinde ich es allerdings, dass es derzeit – soweit mir bekannt ist – keine Möglichkeit gibt, die Verantwortlichen der Website zu informieren. Betreiber:innen von Webseiten wissen daher meistens gar nicht, dass ihre Seiten kommentiert wurden.
Das ist übrigens auch eine ethische und machtpolitische Frage, die nicht nur Hypothesis Webservice betrifft: Kommentare mit Annotationswerkzeugen benötigen weder das Einverständnis der Webseiten-Betreiber:innen, noch können sie verhindert werden. Das hat zwar ein starkes demokratisches Momentum, öffnet aber andererseits Hasskommentaren und Trolls Tür und Tor. Wahrscheinlich muss dieser Aspekt in Zukunft – wenn "Open Annotation" sich weiter verbreitet hat2, noch eingehender diskutiert werden.
Einen (englischen und aus technischer Sicht geschriebenen) Überblick über die vielfältigen Funktionen und Möglichkeiten von Hypothesis Webservice erhalten Sie hier.
Hypothesis Webservice nutzen
Ich habe seit heute die WordPress Hypothesis Webservice-Erweiterung für Blog-Posts (nicht aber für Seiten) aktiviert. Dass Hypothesis Webservice aktiv ist, erkennen Sie daran, dass Sie – z.B. auf dieser Seite, die Sie soeben lesen – am rechten oberen Rand drei Symbole sehen.
Sie können daher meine Blogposts kommentieren. Aber erwarten Sie keine Antwort von mir: Ich kann nicht jeden Post auf meinen Seiten ständig auf Kommentare absuchen. Experimentell habe ich jedoch zwei Gruppen eingerichtet:
- Gruppe Gedankensplitter: In dieser Gruppe können Interessierte Artikel auf meinem Weblog diskutieren. Ich weiß noch nicht genau, ob und wie das funktioniert, oder wohin das führt. Es ist eben ein Experiment.
- Gruppe zum AWDW-Buchprojekt: Ebenfalls experimentell eingerichtet, soll diese englischsprachige Gruppe das Thema "Academic Working in a Digitiezed World" sozial annotieren.
Hypothesis Webservice aktivieren
Um Hypothesis Webservice zu aktivieren, müssen Sie sich jedoch zuerst einmal anmelden. Erst dann können Ihre Beiträge Ihnen zugeordnet werden. Wenn Sie nicht nur meine Posts kommentieren wollen, so empfehle ich, dass Sie sich gleich auf der Hypothesis-Webseite direkt anmelden. Sie können dann kostenlos alle im Web frei zugänglichen Seiten, PDFs und EPUBs kommentieren.
Nach der Registrierung müssen Sie nur noch die Chrome Erweiterung oder das Bookmarklet installieren und schon können Sie mit dem Kommentieren beginnen. Alternativ können Sie natürlich ohne Installation einer Browser-Erweiterung – auch meine WordPress-Erweiterung nutzen. Eine Zusammenstellung der vielfältigen Installations-Möglichkeiten finden Sie in meinem Beitrag Hypothesis Client installieren.
Damit Sie gleich die nachfolgenden Erklärungen selbst umsetzen (üben) können, empfehle ich zwei URLs:
- Es gibt eine Reihe öffentlicher Kommentare auf der Webseite der W3C Web Annotation Working Group.3.
- Climate Feedback ist eine Gruppe von Expert:innen, die Artikel zum Klima kritisch evaluieren. Diese Gruppe ist ein Partnerprojekt von Hypothesis Webservice, mit der Besonderheit, dass die Kommentare auch ohne Mitgliedschaft einsehbar sind.
- From Work to Text ist eine aktuelle (Wintersemester 2022) öffentliche Gruppendiskussion Studierender auf einer WordPress-Seite.
Hypothesis Webservice handhaben
Textpassagen markieren (Highlights erstellen)
Wenn Sie einen Text selektieren, erscheint unter der Selektion ein kleines Fenster mit der Auswahl Annotate (Annotieren bzw. Kommentieren) oder Highlight (Markieren).
Wenn Sie "Highlight" wählen, dann wird Ihr Text gelb markiert. Mit Hypothesis Webservice erstellte Highlights sind das digitale Äquivalent des Hervorhebens von Textpassagen mittels eines gelben Markers. Highlights sind mit der Textpassage fest verankert, unabhängig vom Format der Webseite bzw. des Textes (Breite, Schriftgröße, Font).
Standardmäßig sind diese Hervorhebungen nur für Sie zugänglich ("private"). Damit soll verhindert werden, dass die (vielen) Markierungen nicht den Blick auf die Kommentare verstellen. Sie können natürlich jederzeit diese Hervorhebungen für Ihre Gruppe oder aber für alle Personen mit einem Hypothesis Webservice Konto sichtbar machen. Dazu klicken Sie einfach auf die gelbe Markierung.4
Textpassagen kommentieren (annotieren)
Wählen Sie hingegen "Annotate", so wird sowohl der Text markiert als auch das Dialogfenster von Hypothesis Webservice geöffnet. Sie können nun diese markierte Stelle kommentieren und festlegen, wer (welche Gruppe) Ihren Kommentar sehen darf. Außerdem können Sie Schlüsselwörter zum späteren Auffinden dieser Stelle eingeben.
Kommentare sind in der Standardeinstellung immer öffentlich ("public"). Sie können sie aber jederzeit auf eine Liste von Nutzer:innen beschränken oder aber ganz zusperren, sodass diese Anmerkungen nur für Sie selbst ("Only Me") zugänglich sind.
Antworten
In Hypothesis Webservice sind auch Antworten auf Kommentare möglich. Es kann sich daher eine rege Diskussion zu einer ganz bestimmten Textstelle entwickeln.
Derzeit erhalten die Verfasser:innen des ursprünglichen Posts jedoch keine Benachrichtigung. Daran wird laut Roadmap gerade gearbeitet. Ob diese Funktion aber nur für LMS-Apps realisiert wird oder auch für das allgemeine Hypothesis Webservice verfügbar sein wird, ist aus dem Text für mich nicht klar ersichtlich:
"Bring students and teachers back into the conversation by notifying them when they get a reply."
Zitiert aus der Roadmap
Gruppendiskussion organisieren
Sie können eine neue Gruppe gründen, indem Sie das DropDown Menü am oberen Rand des Dialogfensters von Hypothesis Webservice aufklappen und "New Private Group" wählen. Es öffnet sich dann in Ihrem Browser ein neuer Browser-Reiter, wo Sie den Namen der Gruppe und eine kurze Beschreibung eingeben können.
Nachdem Sie die Gruppe gegründet haben, werden Sie auf Ihre Profilseite so umgeleitet, dass Sie nur die (noch nicht vorhandenen) Aktivitäten dieser Gruppe sehen. Rechts unten sehen Sie den Link, mit dem Sie Kolleg:innen zur Gruppendiskussion einladen können. Wenn potenzielle Gruppenmitglieder auf diesen über E-Mail oder auf Webseiten positionierten Link klicken, dann werden Sie auf eine Seite mit einer Login Schaltfläche geführt. Hypothesis Webservice ermöglicht damit gemeinschaftliches Kommentieren von Gruppen – eine Funktion, die insbesondere für Lerngruppen von großer Relevanz ist.
Wenn eine Gruppe bereits existiert, können Sie auf der Webseite, die Sie annotieren wollen, nur die Aktivitäten (Markierungen, Kommentare) dieser Gruppe sichtbar machen. Alle anderen Aktivitäten von Hypothesis Webservice auf dieser Seite werden dadurch versteckt und Sie können sich voll auf die Gruppendiskussion konzentrieren.
Es ist essenziell, dass alle Mitglieder der Gruppe immer zuerst die Gruppe auf jeder zu annotierenden Webseite auswählen, bevor Sie mit dem Kommentieren beginnen.
Zum Unterschied einer geschlossenen Lerngruppe innerhalb eines Lernmanagementsystems (LMS) können alle Gruppenmitglieder (und nicht nur Gruppengründer:innen) andere Diskussionspartner:innen einladen. Auf der Gruppenseite im Dashboard sehen Sie eine Liste aller Mitglieder der entsprechenden Gruppe mit der Anzahl ihrer Beiträge aufgelistet.
Diese geringe Steuerungsmöglichkeit des frei zugänglichen kostenlosen Hypothesis Webservice kann als Schwäche interpretiert werden. Es entspricht jedoch der Philosophie der Entwickler:innen den (demokratischen) Prozess der Kommentierung nicht einzuschränken. Alle öffentlichen Kommentare sind beliebig nutzbar, weil sie mit der Nutzung von Hypothesis Webservice automatisch unter Creative Commons als Public Domain Lizenz (CC0 1.0) freigeschaltet sind.
Gesamte Webseite kommentieren
Es ist möglich auch die gesamte Webseite im Sinne von Social Bookmarking zu kommentieren. Dazu muss auf das Symbol unter dem Auge geklickt werden. Es öffnet sich dann ein Dialogfenster für Kommentare, die nicht an bestimmte Textpassagen gebunden sind. Sie können die Berechtigung wie bei allen Kommentaren einstellen (öffentlich, Gruppe oder "Only Me") und es lässt sich auch mit Antworten eine Debatte dazu entwickeln.
Profilseite (Dashboard)
Alle registrierten Nutzer:innen von Hypothesis Webservice haben eine Profilseite, die der Funktion einer Homepage gleichkommt. Auf dieser Seite gibt es vielfältige Möglichkeiten (siehe dazu auch den Videoausschnitt ab 13:14 von .
- Es kann nach Kommentaren mit verschiedenen Parametern gesucht werden.
- Es können die Kommentare nach Nutzer:innen, Schlagwörtern, URLs oder Gruppennamen gefiltert werden.
- Nach privaten und öffentlichen Kommentaren kann gesucht werden.
- Vor allem aber kann von einem bestimmten Kommentar zur entsprechenden Passage im Originaltext gesprungen und daher der Kontext zur entsprechenden Notiz hergestellt werden.
Hypothesis Webservice fördert demokratischen Diskurs
Die Bedeutung von Hypothesis Webservice für Demokratie- und Lernprozesse ist aus meiner Sicht nicht hoch genug einzuschätzen.
Hypothesis Webservice wird als Open Source von einer gemeinnützigen Organisation entwickelt, deren Anliegen es ist, über das globale Internet mehrere Schichten des demokratischen Diskurses zu legen.
Ironischerweise hatten Mark Andreeson und Eric Bina im allerersten Internetbrowser Mosaic 1993 soziale Annotation bereits mitgedacht und programmiert. Als sie jedoch die enorme Herausforderung erkannten, die das Management von Milliarden von Kommentaren weltweit erfordert, schalteten sie diese Funktion wieder ab 0:39!
Remi Kalir und Antero Garcia betonen fünf Aspekte für webbasierte Kommentare:
- Informationen übermitteln
- Kommentare gemeinsam nutzen
- Konversationen initiieren
- Macht ausdrücken
- Lernprozesse unterstützen.
Auf diese fünf Aspekte von Annotation werde ich noch in einem eigenen Artikel zu sprechen kommen, wenn ich "Annotation", einem im Internet bereits vor der Drucklegung kommentierten Buch, das sich speziell dem Thema "Digitale Annotation" widmet , rezensiere.
Weiterführende Links
- Die Startseite von Hypothesis Webservice
- Die Hilfeseiten von Hypothesis Webservice sind gut ausgebaut. Seltsamerweise gibt es kein webbasiertes Forum der Community. Durch Zufall habe ich das E-Mail-basierte Google Gruppenforum gefunden.
- Sehr hilfreich ist die Bildungsseite von Hypothesis Webservice, die ihre Inhalte nach den Zielgruppen (Lehrer:innen, Student:innen und Administrator:innen) anbietet. Darin finden sich nicht nur Tipps und Kurzanleitungen für Lehrer:innen und Student:innen, sondern auch Erfahrungsberichte und Hinweise für einzelne Fachgruppen (Digital Literacy, Sprachen, Geschichte, Naturwissenschaften, Mathematik, K-12 Education etc.).
- Empfehlungswert sind auch viele Videos, allen voran der YouTube-Kanal von Hypothesis Webservice.
- Ein besonderes Gimmick sind die inzwischen auf bereits 38 auf der Liquid Margins Seite versammelten Online-Präsentationen. Diese aufgezeichneten Zoom-Veranstaltungen sind nicht immer direkt zu Hypothesis Webservice, sondern kreisen um die allgemeineren Themen der gemeinschaftlichen Annotation und des soziales Lernens. Die letzte Veranstaltung am 9. Februar 2023 lautete beispielsweise: “Liquid Margins 38: The rise of ChatGPT and how to work with and around it”. Interessierte können sich für die Veranstaltungen mit einem Webformular anmelden und über Zoom live daran teilnehmen5.
- Zum Schluss möchte ich noch auf meine eigenen Beiträge, die ich zu Beginn dieses Artikels erwähnt habe, verweisen.
Literatur
Fußnoten
- Eigentlich heißt das Werkzeug bloß Hypothesis. Um es aber vom englischen gleichlautenden Begriff einer zwar widerspruchsfreien, aber wissenschaftlich noch zu begründenden Annahme oder Aussage zu unterscheiden, habe ich den Zusatz Webservice gewählt. Ich hoffe, dass damit diese Seite über Suchmaschinen leichter gefunden wird.
- Im September 2022 gab es zum 10. Jubiläum von Hypothesis Webservice erst 40 Mio. Kommentare. Dabei wurden 2,3 Mio. Dokumente von über 1. Mio. Autor:innen annotiert. Das ist – bezogen auf den Zeitraum und die enorme Größe des Internets mit über 5,6 Milliarden Nutzer:innen und 1,14 Milliarden Websites (Webauftritte, nicht Webseiten!) – noch eine relativ moderate Zahl. Siehe Internetstatistiken & Fakten.
- Dabei habe ich gleich ein Problem der Benutzer:innen-Oberfläche (User Interface, UI) bemerkt: Es gibt am rechten Rand "What are Web Annotation" eine umfangreiche Markierung mit Kommentar. Das Dialogfenster von Hypothesis Webservice verdeckt diese Textmarkierung. Zwar kann das Dialogfenster beliebig weit auf die linke Seite des Bildschirms gezogen werden (statt einem Klick auf das Symbol zum Aufklappen, kann das Dialogfenster nämlich auch mittels Drag "herausgezogen" werden). Das Fenster kann aber nicht auf die linke Seite gewechselt werden. Die sonst so häufige Lösung mit einem eigenständigen Fenster, das völlig vom Rand am Bildschirm herumgeschoben werden kann, ist ja wegen der Parallelführung von Textpassagen und Kommentaren nicht möglich. Fazit: Beim derzeitigen UI bleibt die markierte Textpassage immer verdeckt.
- Aus der Hypothesis Roadmap geht hervor, dass aktuell bereits an mehrfarbigen Markierungen gearbeitet wird.
- Obwohl die Panel-Diskussionen aufgezeichnet werden, ersetzen sie nicht die Teilnahme. So habe ich bei der ChatGPT-Veranstaltung im Teilnehmer:innen-Chat 25 interessante Links erhalten, die nicht in der Präsentation aufscheinen. Außerdem bekam ich ein Gespür für die Anliegen der Teilnehmenden, die nicht 1:1 von den Panelisten repräsentiert oder angesprochen wurden.