H5P Sort the Paragraphs: Überlegungen zum Verhältnis von Fachdidaktik und Weltdeutung

Nochmals zu H5P Sort the Paragraphs: Ich setze mich hier mit theoretischen Argumenten zum Positions- und Transitions-Modus auseinander Warnung: Das ist kein praktischer Artikel zu H5P im engeren Sinne, sondern eher eine philosophische Diskussion. Als Ergebnis aber helfen diese Überlegungen vielleicht doch die beiden Modi bei der Anwendung von H5P Sort the Paragraphs besser zu unterscheiden.

Aus Anlass von H5P Sort the Paragraphs

Oliver Tacke hat als Entwickler von H5P Sort the Paragraphs gleich mit vier Kommentaren ein ganzes Feuerwerk an Ideen und Anmerkungen zu meinem Artikel gepostet. Einer davon greift einen Vorschlag von mir auf und ändert das Verhalten von Drop & Drag der Textelemente. Das freut mich 🤠.

Hier gehe ich jedoch auf seine Replik zu meiner Kritik am Transitions-Modus von H5P Sort the Paragraph ein. Ich möchte jedoch gleich vorweg nehmen, dass es sich hier nicht um einen Artikel zu H5P im engeren Sinne handelt. Ich nehme die Diskussion zu H5P Sort the Paragraphs als Anlass um Betrachtungen des Zusammenhangs von Fachdidaktik und Weltdeutung (bzw. Philosophie) anzustellen.

H5P Sort the Paragraphs und sein Transitions- und Positions-Modus

Zur Vorgeschichte dieser Diskussion

Verhaltenseinstellungen für H5P Sort the Paragraphs
Abb. 1: Verhaltenseinstellungen für H5P Sort the Paragraphs

Zur Erinnerung: Ich habe geschrieben: "Ehrlich gesagt ist mir für den Transitions-Modus bisher noch kein inhaltliches Anwendungsbeispiel eingefallen, wo es ausschließlich auf einzelne Übergange ankommt und nicht auch noch auf deren Position im Gefüge." Der Kommentar von Oliver Tacke lautet dazu:

Wie mir von einer Englischlehrerin mitgeteilt wurde, ist der „Übergangsmodus“ exakt das, was sie in der Praxis zum Beispiel beim Prüfen des Textverständnisses nutzen würde, wenn nach dem Lesen eines Textes die darin beschriebenen Ereignisse in die richtige Reihenfolge gebracht werden sollen. Wenn hier A->B->C->D->E die korrekte Reihenfolge wäre, aber jemand B->C->D->-E->A als Antwort gäbe (wo die Sequenz B->C->D->E völlig richtig war), hätte das nicht 0 Punkte verdient.

Kommentar von Oliver Tacke zu meinem Blogbeitrag H5P Sort the Paragraphs

Ich bin für diese Anmerkung aus Praxissicht sehr dankbar. Ich bin selbst ja kein Sprachlehrer und genau deshalb sind solche Hinweise von Professionalist*innen und Praktiker*innen zu den H5P-Inhaltstypen so extrem wichtig. Leider gibt es genau dazu auf den H5P-Seiten keine Diskussion.1

Mehrere Beispiele wären schön!

Zuerst einmal möchte ich festhalten, dass mir das Argument der Englischlehrerin einleuchtet. Ich stelle mir eine Geschichte vor, die dann in ihren wesentlichen Elementen durch H5P Sort the Paragraphs, d.h. durch das Ordnen der (Ab-)Sätze nacherzählt werden soll. Warum sollte A->B->C->D->E vier Pluspunkte bekommen, aber B->C->D->E->A gar keinen?

Mir leuchtet nicht nur die Argumentation ein, sondern mir scheint dies aus fachdidaktischer Sicht sogar eine sinnvolle Vorgangsweise. Und zweifellos wird diese Vorgangsweise genauso auch im Sprachunterricht verwendet. Obwohl ich daher zustimme und meine starre Auffassung damit korrigiere, würde ich trotzdem sehr gerne einige Beispiele für diese Nutzung von H5P Sort the Paragraphs sehen!

Über die Bedeutung der Pfeile im Transitions-Modus

Für mich wären Beispiele vor allem deshalb hilfreich, weil ich mir (immer noch) nicht eine Geschichte vorstellen kann, die insgesamt (als Ganzheit) Sinn macht, wenn die Anfangsbedingung beliebig an das Ende der Schrittfolge gesetzt werden kann.

Wenn es eine Geschichte gibt, wo A->B->C->D->E korrekt ist, aber auch B->C->D->E einen Sinn ergibt, dann ist A-> nicht unbedingt notwendig für den Gesamtzusammenhang. Warum gibt es dann aber die Verknüpfung mit A->? Und vor allem: Ist die Geschichte auch noch sinnvoll, wenn A vom Anfang an das Ende gesetzt wird?

Die Pfeile hätten dann eine andere Bedeutung, als ich es in meinem Beitrag voraus gesetzt habe. Sie stellen dann nämlich bloß relativ unabhängige Elemente dar. Es gibt nunmehr kein einheitliches Ganzes mehr (wie ich es interpretiert habe), sondern nurmehr selbständige Elemente, die miteinander interagieren. Ich bin mir nicht sicher, ob diese Deutung unserer realen Welt entspricht.

Meine obige Anmerkung widerspricht jedoch nicht der Möglichkeit, dass es aus fachdidaktischer Sicht durchaus sinnvoll ist, die Reihenfolge einzelner Elemente für sich alleine – d.h. ohne Rückgriff auf die absolute Position – als korrekt zu bewerten. Insofern nehme ich meine apodiktische Haltung, dass der Transitions-Modus weggelassen werden kann, zurück!

Ich glaube jedoch, dass Bedeutung des Transitions-Modus aber aus der Perspektive einer pädagogischen Motivation heraus entspringt und nicht die objektive Realität abbildet: Unter "pädagogischer Motivation" meine ich die Haltung, dass nicht die gesamte Bemühung in Bausch und Bogen kritisiert wird, sondern richtige Ansätze positiv bewertet werden.

Prozess- versus Ergebnisbewertung

Ich glaube es gibt zwei Sichtweisen zur Bewertung einer komplexen Aufgabe: Kommt es vor allem auf die (gedanklichen) Prozesse oder aber in erster Linie auf das Endresultat an? Der ersten Fall entspricht einer kognitivistischen Sichtweise, die zweite Interpretation kann sowohl aus einer behavioristischen aber auch aus einer konstruktivistischen Weltdeutung stammen.

Ich möchte mit einem Beispiel aus meiner HTL-Schulzeit diese beiden Sichtweisen in ihrer Gegensätzlichkeit verdeutlichen: Wir hatten einen Mathematik-Lehrer, dem es wichtig war, dass wir alle Gedankengänge, Nebenrechnungen etc. festhalten. Er hat sich die (Rand-)Notizen genau angeschaut und für einzelne richtige Gedankengänge Punkte vergeben. So war es möglich, dass viele von uns doch noch eine positive Note erreichten (und nicht die Schularbeit wegen einer zu hohen Anzahl von Nicht-Genügend wiederholt werden musste 😥.)

Eine ganz andere Strategie verfolgte unser Lehrer für Elektrotechnik. Der Unterschied wurde mir klar, als ich mich einmal beschwerte, weil ich eine sehr komplexe Berechnung zur Dimensionierung eines Transformator alle Rechengänge zwar korrekt durchgeführt hatte, mich aber am Schluß beim Setzen des Kommas geirrt hatte. Ich monierte, dass meine Rechnung doch zumindest als teilweise richtig bewertet werden sollte. Seine Antwort: "Es gab andere Schüler die einen völlig Unsinn gerechnet haben aber in ihrem Endergebnis näher waren, als Sie es sind. Sie haben ein Ergebnis, das um eine ganze Zehnerpotenz falsch ist. Ihr Trafo wäre explodiert."

Ich finde, dass beide Bewertungsstrategien ihre Berechtigung haben: Die Prozess-Strategie hilft leichter den (Denk-)Fehler zu finden und daraus zu lernen. Sie ist daher ganz besonders für Übungs- bzw. Trainingsmodi geeignet. Die Ergebnis-Strategie entspricht eher der ("harten") Realität, wo Handlungen / Sachverhalte / sozio-technische Systeme, weil sie nicht korrekt funktionieren bzw. nicht angemessen entwickelt/implementiert wurden, komplett scheitern. Das würde dann im pädagogischen Bereich eher einer Assessment-Strategie, d.h. einem Abschluss-Test entsprechen2.

Fachdidaktik und Philosophie

Aus pädagogisch/didaktischer Sicht kann also der Transitions-Modus durchaus zweckmäßig sein. Allerdings würde ich mir doch einige Beispiele wünschen, die zeigen, dass ein geringfügiges Vertauschen der Elemente nicht den gesamten Zusammenhang zerstört oder gar ad absurdum führt. Nicht nur falsch zugeordnete (Ab-)Sätze, sondern sogar ein falsches Wort kann schon zu Missverständnissen und damit zum Zusammenbruch der Kommunikation führen. Das zeigen viele Beispiele in den Arbeiten von ErvingGoffman und anderen Vertreter*innen des symbolischen Interaktionismus.

Ein rudimentärer Hinweis für meine skeptische Einstellung zur Idee des Elementarismus (Atomismus), wie ich obige Sichtweise der Welt bezeichnen möchte3: Ich vertrete die Idee von Ganzheitlichkeit (Wholeness) wie sie z.B. in Zusammenhängen von Raum und Zeit, im Dualismus von Lichtpartikel und Welle oder auch in der Gestaltpsychologie angenommen wird.

Eine Gestalt ist die letzte, nicht mehr reduzierbare Einheit (Ganzheit) und ist übersummativ, d. h. mehr als die Summe ihrer Teile. Sie ist von der Umgebung abgehoben, gegliedert, aber in sich geschlossen.

Arthur Brühlmeier: Psychologie der Wahrnehmung

Typische Beispiele aus der Gestaltpsychologie sind die Vexier- oder Kippbilder. Sie können immer nur als Ganzes "gekippt" werden. Entweder sehe ich eine Vase oder zwei Gesichter, die sich gegenseitig ansehen.

Rubinsche Vase: Vexierbild Vase oder Gesichter?
Abb. 2: Rubinsche Vase: Vase oder Gesichter?4

Von dieser Perspektive wäre meine Kritik daher nicht entweder an Positions- oder Transitions-Modus, sondern an beide Modi (Position und Transition) zu richten! Die mit H5P Sort the Paragraphs implizit angenommene lineare Sequenz entspricht nämlich in beiden Fällen nicht unserer objektiven Realität!

Im "echten" Leben gibt es lineare Zusammenhänge nur in Ausnahmefällen, in zeitlich und räumlich beschränkten Episoden oder weil aus bestimmten Gründen (z.B. aus einer didaktischen Motivation heraus) eine spezielle Sichtweise eingenommen wird. Statt lineare Zusammenhänge haben wir in unserer Welt komplexe (technisch-soziales) Netzwerke, wo Elemente als Knoten in ganz verschiedene Arten von dynamischen Relationen zueinander wirken.

Gerade die aktuelle COVID-19 Pandemie und die Modellrechnungen der Komplexitätsforscher*innen zeigen das jetzt deutlich. Einen interessanten Einblick über neue Forschungen zu einigen dynamischen Zusammenhängen unserer Welt gibt Scale: Die universalen Gesetze des Lebens von Organismen, Städten und Unternehmen5.

Zusammenfassung

Trotzdem können – und hier korrigiere ich meine Meinung zum Transitions-Modus – beide Arten von Übungsformen (also absolute Positionen und relative Positionen bzw. Übergänge) didaktisch wertvoll sein.

Es folgt daraus dann folgender Entscheidungsmodus für die beiden Modi von H5P Sort the Paragraphs:

  • Positions-Modus: Anzuwenden bei Zusammenhängen, wo es auf das Ergebnis ankommt und wo daher der Gestaltcharakter der Aufgabe dominiert. Mit "Gestalt" meine ich, dass es ganzheitliche Strukturen und Ordnungsprinzipien gibt, die nicht einzeln verändert werden können.
  • Transitions-Modus: Anzuwenden bei Zusammenhängen, wo die Betonung auf den Prozess liegt und daher ein Zerlegen einzelner Phasen/Etappen aus didaktischer Sicht zweckmäßig ist.

Fußnoten

  1. Jetzt wird Oliver sicherlich einwenden, dass ich nicht immer meckern soll, sondern ich genau solch ein Forum ja auch vorschlagen (und moderieren?) könnte. Über (meine) Eigenverantwortung, die ja auch in seinem ersten Kommentar mit dem Hinweis auf H5P Hooks und Stylesheet anklingt, möchte ich später noch einmal genauer eingehen.
  2. Ich lasse hier mal die heikle Frage, ob diese Vorgangsweise mit unserem Notensystem pädagogisch nützlich ist, unberücksichtigt.
  3. Ich habe hier in meinem Weblog über Wholeness – meistens in Zusammenhang mit Christopher Alexander – schon öfters geschrieben. Aber auch meine Kurs bzw. Lesereise zu Bruno Latour behandelt ganzheitliche voneinander abhängige (= interdepentente) Zusammenhänge.
  4. CC-BY-SA: Original image Cup or faces paradox.jpg uploaded by Guam on 28 July 2005, SVG conversion by Bryan Derksen.
  5. Ich weiß allerdings nicht ob die deutsche Übersetzung gut gelungen ist. Ich habe die englische Originalversion gelesen.

Von Peter Baumgartner

Seit mehr als 30 Jahren treiben mich die Themen eLearning/Blended Learning und (Hochschul)-Didaktik um. Als Universitätsprofessor hat sich dieses Interesse in 13 Bücher, knapp über 200 Artikel und 20 betreuten Dissertationen niedergeschlagen. Jetzt in der Pension beschäftige ich mich zunehmend auch mit Open Science und Data Science Education.

2 Antworten auf „H5P Sort the Paragraphs: Überlegungen zum Verhältnis von Fachdidaktik und Weltdeutung“

Die Frage nach Zwischenpunkten bzw. Folgefehlerpunkten wird bei uns in der Lehrveranstaltung „Grundlagen der Elektrotechnik“ auch regelmäßig diskutiert. Im Allgemeinen geben wir aber keine Folgefehlerpunkte.
Dafür gibt es zwei Hauptgründe:
a) Wenn man als Ingenieur*in eine Brücke baut, ist es egal, ob man sich am Anfang der Rechnung oder am Ende der Rechnung verrechnet. Die Brücke wird einstürzen, wenn die Rechnung nicht stimmt.
b) Man kann sich am Anfang einer Rechnung auch mutwillig verrechnen, so dass die darauf folgende Rechnung einfacher wird.
Deshalb geben wir Folgefehlerpunkte typischerweise immer nur auf die Zahlenrechnung, zum Beispiel dann, wenn ein Zwischenwert falsch berechnet wurde (z.B. durch einen Tippfehler im Taschenrechner oder Fehler beim Kopfrechnen), und dann mit dem falschen Zwischenwert aber der korrekten Formel weitergerechnet wurde.

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